Zwischen Wasser und Luft

Eine Brücke aus Glas für Venedig

Wer in Venedig nach einem bestimmten Restaurant, nach einer Apotheke oder einer Bank fragt, erhält die immer gleiche Antwort: „Hinter der Brücke!“ Eine Stadt im Meer kommt ohne Brücken nicht aus. In Venedig gibt es unzählige davon, und während die einen ihre Geschichte haben, führen andere namenlos über namenlose Kanäle.

Die Brücken, die berühmten wie die Rialto- und die Seufzerbrücke genau wie die gewöhnlichen, gehören zum Erbe der Stadt. Davon lebt Venedig heute, und dieses Erbe ist unantastbar. Die Tourismuslobby wacht darüber, dass sich nichts verändert, was dem Postkartenimage der Lagunenstadt Abbruch tun könnte. Das fördert zwar die Denkmalpflege, und es gibt wohl kaum eine andere Stadt, in der das zwanzigste Jahrhundert so wenig architektonische Spuren hinterlassen hat wie in Venedig. Doch langsam kriecht die Totenstarre in die feuchten Gemäuer an den Kanälen. Venedig ist schon lange keine Stadt mehr für junge Leute. Zu teuer. Zu wenig Aussicht auf Veränderung.

Wie das Meer gehört auch das Glas zu Venedig, das Glas der Insel Murano. Täglich ergießen sich die Menschenströme aus den Vaporetti, den schwimmenden Omnibussen, über die Insel. Die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Geschäften mit den Gläsern, Leuchtern und bunten Seepferdchen halten die Zertifikate und Garantiescheine bereit. Auf Murano wird zwar heute nur noch wenig produziert, aber der Jahrmarkt ist das ganze Jahr geöffnet. Die Läden liegen am Canale Grande di Murano. Ihm entlang ziehen die Touristenscharen. Auf einem Platz hinter der Chiesa SS. Maria e Donato aber ist es ruhig. Nur ein paar Kinder spielen Fußball. In eine Mauer in der Calle delle Conterie ist ein eisernes Tor eingelassen. Verschlossen. Abweisend.

Hinter dem Tor öffnet sich dem Besucher ein Patio mit blühenden Rosenstöcken und dunklen Pinien. Unter einem der Bäume steht eine schlanke Stele, vielleicht einen Meter hoch. Das Licht, das in Flecken durch die Äste auf sie fällt, bricht sich in der scharfkantig geschliffenen, seegrünen Säule, die das Modell eines Wolkenkratzers sein könnte. Die einzelnen Etagen sind jedoch von Rillen und Röhrchen durchbohrt, ein feines Geflecht von Metallfäden scheint in sie eingelassen. Doch da ist kein Metall. Die ganze Säule ist aus Glas, aus einem außergewöhnlich harten, kühlen Glas, das nichts gemein hat mit dem weichen Muranoglas. Langsam begreift man: Die Säule ist aus einzelnen Glasplatten zusammengesetzt. Jedes Element wurde für sich geschliffen und bearbeitet. Und doch scheint das Ganze wie aus einem Guss zu sein. Keine Schrauben, keine Klammern.

Der Patio wird auf einer Seite durch ein längliches Gebäude begrenzt. Es beherbergt ein Atelier wie das eines Bildhauers. Anstelle von Marmorblöcken aber stehen kompakte, kopfgroße Glasstücke zur Bearbeitung bereit. Auf einer Werkbank liegen Dutzende zu Kuben und Prismen zugeschnittene Glasstücke.

Vor einem der roh behauenen Glaskörper auf einer Drehscheibe steht ein Mann mit dichtem, weißem Haar. Immer wieder dreht er den Körper, zeichnet mit Filzstift Markierungen ein, betrachtet ihn aus einiger Entfernung, tritt wieder an das Glasstück heran. Luciano Vistosi ist Glaskünstler. Nicht aus Mode und nicht aus Gelegenheit, wie manche, die auch schon mal eine Vase geblasen haben und sich deshalb mit dem Titel schmücken. Vistosi hat nie mit einem anderen Material als mit Glas gearbeitet. Glas ist seine Bestimmung, und die wurde dem heute 66jährigen sozusagen in die Wiege gelegt. Vistosis Vater besaß eine Glashütte auf Murano, und bereits Generationen vor ihm handelten die Vistosis mit Glas. Seit 1470, seit die Familie nach Venedig kam, um es in der damals blühenden Serenissima zu etwas zu bringen.

Luciano Vistosi studierte Chemie und erwarb sich damit wichtige Kenntnisse über die Möglichkeiten der Glasbearbeitung. Nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders verkaufte Vistosi das Geschäft und wandte sich dem zu, was immer schon seine Leidenschaft war: der Bildhauerei. Dem Glas blieb er jedoch treu, und seine Kenntnisse des Materials, seiner besonderen chemischen Eigenschaften wie der Geschichte seiner Bearbeitung, erlaubten ihm, Glasskulpturen herzustellen, wie sie vor ihm niemand geschaffen hatte. Seine Glasobjekte wurden berühmt. Sie waren in London, New York und Osaka, auf der sechsten Documenta in Kassel und der Biennale di Venezia XLII zu sehen. Die Basilika San Marco beauftragte ihn, ein Kunstwerk für die Krypta zu schaffen, eine besondere Ehre, denn nur alle hundert Jahre wird einem Künstler von der Basilika ein solcher Auftrag erteilt.

Seit den achtziger Jahren macht sich Vistosi für seine Arbeiten industrielle Techniken zunutze, die es ihm erlauben, Skulpturen in bisher ungeahnten Formaten herzustellen. Dank der Erfindung des Float- Glases, eines Industrieglases mit absolut glatter Oberfläche, lassen sich einzelne Glasplatten unter UV-Strahlung zusammenkleben. Es entstanden Arbeiten wie jene Säule im Garten oder eine aus einzelnen geometrischen Körpern zusammengesetzte Scheibe mit einem Durchmesser von 180 cm. Vistosi nennt die Scheibe „Sole“, Sonne, und die auf einem Sockel stehende, drehbare Skulptur reflektiert das Licht in tausend Brechungen. Das Float-Glas und die damit verbundenen Möglichkeiten hoben die Grenzen, die der Glaskonstruktion bislang gesetzt waren, auf. Auch Vistosis Phantasie kannte keine Grenzen mehr.

1985 schrieb die Stadt Venedig einen viel beachteten Wettbewerb aus: Die Brücke über den Canale Grande auf der Höhe der Accademia, ein seit 1932 bestehendes hölzernes Provisorium, massig und düster, sollte durch einen Neubau ersetzt werden. Auch Vistosi beteiligte sich am Wettbewerb. Sein Vorschlag: eine Brücke aus Glas, eine „lama di luce“, eine Flamme aus Licht, die über das Wasser setzt. Vistosi schuf ein Modell, eine vier Meter lange Brücke aus grünschimmerndem Glas, ein Traumgebilde wie aus dem Märchen. Das Brückenmodell war vorerst nicht mehr als eine Skizze. Es fehlten die nötigen statischen Berechnungen. Dennoch löste der Vorschlag Erstaunen aus. Das Revolutionäre der Idee und die Selbstverständlichkeit, mit der Vistosi die Ansicht vertrat, eine solche Brücke ließe sich bauen, waren provozierend und faszinierend zugleich.

Doch 1985 setzten sich in Venedig jene Kräfte durch, die keine Veränderung wünschten, die sich vor einem architektonischen Wagnis fürchteten, weil es dem historischen Venedig schaden könnte. So steht bei der Accademia noch heute das Provisorium, zur Freude der Renovierungsfirma, die mit den jährlichen Ausbesserungsarbeiten der Holzbrücke betraut ist.

In Vistosi lebte die Idee einer Glasbrücke weiter. Über die Erfüllung eines persönlichen Traums hinaus sollte die Brücke auch beweisen, dass Venedig noch immer die Einmaligkeit besitzt, Neues ins Alte zu integrieren, mit ihm zu wachsen, ohne davon zerstört zu werden. Eine Fähigkeit, so Vistosi, die sich alle zehn Schritte unter Beweis stellt, findet sich doch Byzantinisches neben Gotischem, ist die Renaissance ebenso vertreten wie der Barock, stößt man auf Jugendstilelemente direkt neben Klassizistischem. Venedig ist die Stadt der Uneinheitlichkeit, die trotz aller Vielfalt ein einmaliges Gepräge besitzt, die Stadt der Verschmelzung von Gegensätzen, in deren Licht sich die Fassaden wie durchsichtiges Spitzengewebe auflösen, während die Spiegelungen in den Kanälen ineinander verschoben werden.


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mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier

Ronald Schenkel ist freier Journalist und Publizist.

Jürg Waldmeier ist Fotograf. Beide leben in Zürich und realisieren regelmäßig gemeinsame Projekte.

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Vita Ronald Schenkel ist freier Journalist und Publizist.

Jürg Waldmeier ist Fotograf. Beide leben in Zürich und realisieren regelmäßig gemeinsame Projekte.
Person Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier
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