Zusammen ist man nicht allein

Am Hering lässt sich das Schwarmverhalten der Fische ideal studieren

Selbst die „Königlichen“ von Real Madrid, dem Champions-League-Gewinner von 2016, 2017 und 2018, sehen gegen dieses Superteam blass aus. Schon weil das Farbenspiel der Heringe im Wasser atemberaubend ist: Von Gelbgrün über Blauschwarz bis hin zu Blaugrün mit Purpurschimmer leuchten ihre Rücken. Die Bäuche sind schneeweiß, die Flanken glänzen silbrig, „Silber des Meeres“ werden Heringsschwärme auch genannt. Ganz ohne Trainer spielen diese Flossentiere auf höchstem Niveau zusammen. Gemeinsam sind sie eine Urgewalt. „Die Heringe ziehen so gedrängt, dass Boote, die dazwischenkommen, in Gefahr geraten“, heißt es in „Brehms Tierleben“ aus dem Jahr 1924. „Ein langes Ruder, das in die lebende Masse gestoßen wird, bleibt aufrecht stehen.“

Auf ihren Wanderungen durchs Meer verhalten die Fische sich so diszipliniert, dass sie aus der Ferne wie ein einziger riesiger Organismus wirken: ein „Superorganismus“, sagen Fachleute. Manche Heringsschwärme bestehen aus mehreren Millionen Individuen und sind so groß wie Manhattan. Doch wer entscheidet im Schwarm, wohin die Reise geht? Und kommt es in einem solchen Kollektiv nicht zwingend zu Konflikten?

Die romantische Vorstellung, dass Heringsschwärme durch die Solidarität zwischen einzelnen Individuen zusammengehalten werden, entspricht jedenfalls nicht der Realität. „Auch im Schwarm ist jeder sich selbst der Nächste“, sagt Axel Meyer, Biologieprofessor an der Universität Konstanz. „Als Hering schwimme ich in einer solchen Großgruppe, damit im Zweifelsfall der andere gefressen wird und nicht ich.“ Jedes Individuum versuche, sich möglichst in der Mitte aufzuhalten, wo man am besten geschützt sei. „Die Natur funktioniert auch im Schwarm nach dem Prinzip der Konkurrenz“, sagt Meyer. „Artgenossen sind die härtesten Konkurrenten, weil sie die gleichen ökologischen Ansprüche haben.“

Seite an Seite mit unzähligen Artgenossen zu schwimmen hat in der Tat Nachteile und braucht Frustrationstoleranz. Schon weil man sein Mittagessen mit Abertausenden teilen muss. Attraktive Fortpflanzungspartner sind zwar jederzeit in der Nähe – aber auch genauso viele Konkurrenten. „Insbesondere kleine, schwache Männchen haben in dieser Konstellation schlechte Chancen, ihre Gene weiterzugeben“, sagt der renommierte Fischforscher Jens Krause, Professor am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Ein weiteres Minus: Die oft mehrere Millionen Tiere im Heringsschwarm verbrauchen viel Sauerstoff und produzieren zentnerweise Exkremente, was die lokale Wasserqualität stark verschlechtert. Als einzelner Fisch hätte man freiere Sicht und würde weniger Schadstoffe aufnehmen.

Dennoch verbringt rund ein Viertel aller Fischarten ihr Leben im Schwarm. Und Heringe sind besonders gesellig. Ihre Schwärme zählen zu den größten im ganzen Tierreich. Ob sie sich allein hilflos fühlen?

Paolo Domenici, Ökophysiologe am Meeres- und Küstenforschungsinstitut im italienischen Oristano, glaubt wie Biologe Meyer, dass Schwärme vor allem als Schutzschild gegen Feinde gebildet werden. In einer Großgruppe ist das statistische Risiko, zum Opfer zu werden, deutlich geringer als bei Eins-zu-eins-Begegnungen mit Fressfeinden. Außerdem irritiere der riesige Schwarm die Räuber, sagt Domenici. „Stellen Sie sich vor, jemand wirft Ihnen gleichzeitig 30 Tennisbälle zu. Da ist es schwerer, einen zu fangen, als wenn ich Ihnen einen einzigen Ball zuwerfe.“

Bei Gefahr schwärmen Heringe rasend schnell aus, kreisen den Angreifer ein und bringen ihn durch ihr Gewusel beinahe um den Verstand. Oder sie sammeln sich, um weniger Angriffsfläche zu bieten, zu einem kompakten Knäuel. Besonders effektiv ist der Trick, den Schwarm plötzlich in zwei Gruppen zu teilen – und Angreifer ins Leere schwimmen zu lassen.

Heringsschwärme setzen auf Selbstorganisation ohne Chef und sind dabei sehr effizient. Viele Menschen geraten angesichts solcher Kollektive regelrecht ins Schwärmen. „Schwarmintelligenz“ lautet das Zauberwort des modernen Managerjargons. Immer mehr Unternehmen tragen zum inflationären Gebrauch dieses Begriffs bei, wenn etwa für Produktverbesserungen die Meinung von möglichst vielen zum Evangelium wird. Der Grundgedanke dahinter ist simpel: Millionen Augen sehen mehr als zwei, und Millionen Gehirne sind schlauer als ein einziges. Bei TV-Quizsendungen wie „Wer wird Millionär?“ können Kandidaten über den Publikumsjoker auf die Weisheit der Masse zurückgreifen. Statistisch treffen die vereinten Zuschauer zu 91 Prozent ins Schwarze. Selbst Gedächtniskünstler können da als Einzelkämpfer nicht mithalten.


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mare No. 135

No. 135August / September 2019

Von Till Hein

Till Hein, Jahrgang 1969, freier Wissenschaftsjournalist in Berlin, ist – wie die Heringe – ungern allein. Seit bald 20 Jahren arbeitet er im Kreuzberger Büro „textetage“, umgeben von Dutzenden anderen Freischaffenden. Nach dem Motto „You’ll never write alone“.

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Vita Till Hein, Jahrgang 1969, freier Wissenschaftsjournalist in Berlin, ist – wie die Heringe – ungern allein. Seit bald 20 Jahren arbeitet er im Kreuzberger Büro „textetage“, umgeben von Dutzenden anderen Freischaffenden. Nach dem Motto „You’ll never write alone“.
Person Von Till Hein
Vita Till Hein, Jahrgang 1969, freier Wissenschaftsjournalist in Berlin, ist – wie die Heringe – ungern allein. Seit bald 20 Jahren arbeitet er im Kreuzberger Büro „textetage“, umgeben von Dutzenden anderen Freischaffenden. Nach dem Motto „You’ll never write alone“.
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