Zeitenwende

Die Geschichte der Seefahrt ist auch eine Geschichte der Uhrmacherkunst – ohne sie wäre eine exakte Navigation unmöglich. Erst ein gelernter Tischler konstruiert ein Uhrwerk, das präzise genug läuft, um damit die Längengrade zu bestimmen

Sir Cloudlesley Shovell (1650–1707), Admiral Ihrer Majestät Queen Anne, ist Erfolg gewöhnt. Doch als sich seine Flotte am 22. Oktober 1707 von Westen her dem Ärmelkanal nähert, also vertrautem Gewässer, misslingt bei schlechtem Wetter die genaue Positionsbestimmung. Statt auf die Südküste zuzufahren, tauchen vor der HMS „Association“, dem Flaggschiff des Admirals, plötzlich die zwischen Irland und Cornwall gelegenen Scilly-Inseln auf. Zu spät bemerken die Offiziere ihren Irrtum. Trotz eiligst gereffter Segel läuft die HMS „Association“ krachend auf ein Riff. 800 Mann ertrinken in der rauen See, unter ihnen auch Sir Cloudesley Shovell. Die HMS „Eagle“, die HMS „Romney“ und die HMS „Firebrand“ können ihren Kurs ebenfalls nicht mehr korrigieren und folgen dem Flaggschiff aufs Riff. 1450 Menschen finden den Tod.

So tragisch die Katastrophe auch ist, sie unterscheidet sich von anderen dieser Art nur in der Zahl der Opfer. Die Ursache ist bekannt: Auf keinem der Schiffe gibt es eine auf die Sekunde genau gehende Uhr. Aber nur so ist die exakte Positionsbestimmung möglich. Trotz der Fortschritte im Schiffbau zu Beginn des 18. Jahrhunderts unterscheiden sich die wenigen nautischen Instrumente kaum von jenen des 15. Jahrhunderts: Mit dem Kompass ermittelt man die Himmelsrichtungen, durch Beobachtung des Sternenhimmels und mit dem Jakobsstab die geografische Breite. In Küstennähe helfen Seekarten. Die geografische Länge aber wird nach wie vor geschätzt.

Dabei liegt der Schlüssel zur Lösung auf dem Tisch. In seinem Werk „De Principiis Astronomiae et Cosmographiae“ zeigt der niederländische Mathematiker und Astronom Gemma Frisius (1508–1555) schon 1530 den einzig praktikablen Weg. Nur mit einer auf die Sekunde genau gehenden Uhr ist das Längenproblem zu lösen. Die Uhr zeigt und bewahrt die Ortszeit des Heimathafens beziehungsweise des Nullmeridians, der 1883 dem Observatorium von Greenwich bei London zugesprochen wird. Die Ortszeit an Bord wird mithilfe von Sonne und Sternen ermittelt, der Breitengrad mit Jakobsstab und ab 1730 mit dem Sextanten. Aus der Differenz zwischen der Zeit des Nullmeridians und der Ortszeit an Bord lässt sich der Längengrad bestimmen, denn eine Stunde Unterschied entspricht 15 Grad. Die entsprechende Entfernung in Seemeilen oder Kilometern liefert der Breitengrad. Am Äquator beträgt der Abstand zwischen zwei Längenkreisen 111,32, an den Polen 0 Kilometer, da sich dort die gedachten Linien der Längengrade treffen.

Doch eine solche Uhr kann kein Uhrmacher bauen. Selbst die Erfindung der Unruh mit Spiralfeder durch den Niederländer Christiaan Huygens (1629–1695) bringt keinen Durchbruch, da eine Reihe negativer Einflüsse, etwa Temperatur- und Luftdruckschwankungen, nicht ausgeschaltet werden konnten. Eine Borduhr muss aber bei jedem Wetter, in jeder Region und bei schwerer See gleichermaßen präzise laufen, um als Längenuhr dienen zu können. Das erfüllt zu dieser Zeit keine Uhr.

An Bord der Schiffe verlässt man sich vor allem auf die Logsanduhr. Sie hat eine Laufzeit von nur 14 oder 28 Sekunden. Zusammen mit Log und Logleine, die durch Knoten in gleich große Abschnitte unterteilt ist, sorgt sie für eine deutlich verbesserte Geschwindigkeitsmessung: Ein Seemann wirft die Logleine über Bord. Aus der Anzahl der Knoten während der Laufzeit der Uhr ergibt sich die ungefähre Geschwindigkeit, aus der sich wiederum zusammen mit dem gefahrenen Kurs auf die geografische Länge schließen lässt. Diese als Koppelnavigation bekannte Methode wird auch von Kolumbus und Drake angewandt. In Verbindung mit Intuition und Glück kann man damit sogar die Welt umsegeln. Man kann aber auch versehentlich in Amerika stranden.

Trotz mehrerer Sanduhren an Bord müssen Handels- wie Linienschiffe im 17. Jahrhundert weiterhin „Breiten absegeln“, um einen Hafen zu finden. Wer dazu nur einige Tage benötigt, hat Glück, denn nicht selten benötigen die Schiffe mehrere Wochen, bevor die gesuchte Küste vom Mann im Krähennest gesichtet wird. Wochen, die tödliche Folgen haben können, wenn etwa die Wasservorräte nicht reichen oder die Seeleute an Skorbut erkranken. Wochen, die Kriege entscheiden können.

Die Katastrophe von Shovells Flotte bleibt nicht ohne Folgen. Das britische Parlament beschließt 1714 das Län- gengradgesetz, in dem dem Erfinder einer geeigneten Methode oder Längenuhr ein Preisgeld von 20 000 Pfund zugebilligt wird – der Gegenwert von zehn seetauglichen Schiffen mittlerer Größe. Sogar eine Längenkommission wird ins Leben gerufen, die mögliche Resultate prüfen soll. Als Favorit gelten weiterhin astronomische Methoden, etwa die Messung von Monddistanzen.


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mare No. 103

No. 103April / Mai 2014

Von Bernd Flessner

Bernd Flessner, Jahrgang 1957, freier Autor und Wissenschaftsjournalist, beschäftigt sich von Berufs wegen mit der Zeit: Er ist Zukunftsforscher an der Universität Erlangen-Nürnberg.

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Vita Bernd Flessner, Jahrgang 1957, freier Autor und Wissenschaftsjournalist, beschäftigt sich von Berufs wegen mit der Zeit: Er ist Zukunftsforscher an der Universität Erlangen-Nürnberg.
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