Am 2. Januar 1897 treffen sich am Strand von Naples zwei Männer und blicken fasziniert auf den Golf von Mexiko. Naples ist eine Kleinstadt im Südwesten Floridas. Selbst im Winter ist es hier sommerlich warm, und mit Hurrikanen muss man erst wieder im Juni rechnen. Das ruhige Meer, die Palmen und der weiße Sand machen Naples zu einem idealen Urlaubsort.
Die beiden Männer haben anderes als Zerstreuung im Sinn. Zwar haben der Strand und das Meer auch sie an diesen Ort gelockt, aber nur, weil hier die Bedingungen für ein noch niemals durchgeführtes Experiment besonders günstig sind. Nach einer kurzen Begutachtung des Strandes fixieren sie den Horizont, der für sie keiner ist. Dann wandern ihre Blicke ganz langsam den blauen Himmel hinauf, der ihrer Meinung nach ebenfalls nicht existiert. Jedenfalls nicht in der allgemein bekannten und naturwissenschaftlich akzeptierten Form. Denn die beiden sind fest überzeugt davon, dass sich vor ihnen nicht der Himmel erhebt, sondern das Meer.
Sie heben die Köpfe um einige weitere Grade, dann zeigt der Ältere von ihnen mit dem Finger mitten ins himmlische Blau. Dort, schätzt er grob, müsste Mexiko liegen. Und noch höher über ihnen der Pazifik. Für eine Weile bleiben ihre Augen am Himmel kleben, als könnten sie tatsächlich den größten aller Ozeane über ihren Köpfen ausmachen.
Der Ältere, das ist der aus Trout Creek bei New York stammende Arzt Cyrus Reed Teed (1839–1908). Schon während seiner Ausbildung werden Heilmethoden, die man heute als alternativ bezeichnet, zu seinem Spezialgebiet. Sein Interesse reicht von der Homöopathie über Kräutermedizin der Indianer bis hin zu Therapieformen, bei denen Magnetfelder und Stromschläge zum Einsatz kommen. Auch vor der Alchemie, der mittelalterlichen Verbindung aus Chemie und Mysterienkultur, schreckt er nicht zurück.
Seine andere Leidenschaft ist die Bibel, an deren Wahrheitsgehalt er fest glaubt. Weniger überzeugt ist er dagegen von dem Weltbild der modernen Naturwissenschaft, das im Lauf des 19. Jahrhunderts immer komplexer wird. Selbst das All ist nicht mehr das, was es einmal war: 1848 wird der Neptun entdeckt, die Marsmonde folgen 1877, die Erfindung der Spektralanalyse macht es von 1859 an möglich, die Elemente zu bestimmen, aus denen die Sonne und weit entfernte Sterne bestehen. Das All expandiert.
Teed stellt sich dieser Entwicklung entgegen und ist auf der Suche nach einem anderen System. Der Zufall kommt ihm dabei zu Hilfe. Bei einem seiner merkwürdigen Experimente streckt ihn 1869 ein Stromschlag zu Boden. Während der Bewusstlosigkeit hat er eine himmlische Erscheinung, die ihm ein Weltbild vermittelt, das sich diametral von dem der Astronomie unterscheidet.
Demnach leben wir nicht auf der Oberfläche einer Vollkugel, sondern auf der Innenfläche einer Hohlkugel. Die Rundung der Erde ist nicht konvex, sondern konkav. Doch warum haben Astronomen von Galileo Galilei bis Wilhelm Herschel dies nicht längst bemerkt? Ganz einfach, weil sie und andere Naturwissenschaftler von einer geradlinigen Ausbreitung des Lichtes und einer konstanten Lichtgeschwindigkeit ausgehen. Breiten sich Lichtstrahlen jedoch bogenförmig aus, sind sie also gekrümmt, entsteht für den Beobachter lediglich die Illusion einer vollkugelförmigen Erde und eines unendlichen Alls. Die wahre Erde hingegen, verkündet die himmlische Erscheinung, bestehe aus zahlreichen Zellen und Sphären.
Der Boden unter unseren Füßen ist nur 100 Meilen (161 Kilometer) dick und besteht aus 17 Metall- und Steinschichten. Wie eine Eierschale umschließt er das innere Universum. Der Durchmesser der Hohlkugel beträgt lediglich 8000 Meilen (12 875 Kilometer). Es gibt drei Sphären: Die erste ist die Atmosphäre auf der Erdoberfläche, gefolgt von einer Schicht Wasserstoff und schließlich Bor im Zentrum.
Natürlich gibt es in diesem himmelszentrischen Weltbild auch für die Sonne einen Platz. „Die Sonne ist eine unsichtbare, elektromagnetische Energiequelle, die sich im Zentrum der Hohlkugel um sich selbst dreht. Dabei ist die sichtbare Sonne nur eine Reflexion wie der Mond“, erläutert Teed in seinem Buch „Zellulare Kosmogonie oder die Erde als Hohlkugel“, das 1898 erscheint. In nur 4500 Kilometer Höhe steht sie fest über der konkaven Erdoberfläche und ist entsprechend klein.
Auch der Mond, die Planeten und Sterne sind nicht real, sondern lediglich Reflexionen des Sonnenlichts. Da die Sonne auch eine dunkle Seite hat und im 24-Stunden-Rhythmus rotiert, ist in diesem Weltbild auch für Tag und Nacht gesorgt. Für die Jahreszeiten gibt es ähnliche Erklärungen. Selbst die Gravitation findet ihre Ursache in der Sonne, es sind besondere Strahlen, die von ihr ausgehen und von den Metallschichten im Boden reflektiert werden.
Als Teed aus seiner Ohnmacht erwacht, kennt er nur noch ein Ziel. Er will dieses neue, ebenso faszinierende wie unglaubliche Weltbild, das ihm so unvermittelt offenbart wurde, in aller Welt verkünden. Aus dem verschrobenen, bibelfesten Arzt wird praktisch über Nacht ein Religionsgründer, der sich als eine Art moderner Messias sieht.
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Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, aus Uehlfeld kennt die Innenwelttheorie seit seiner Kindheit. Sein Großvater, seinerzeit Physiker in Göttingen, hatte ihm ein Buch über kuriose Weltbilder zum Lesen gegeben. „Die Vorstellung, auf der Innenseite einer Hohlkugel zu leben, hat mich besonders fasziniert.“
Vita | Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, aus Uehlfeld kennt die Innenwelttheorie seit seiner Kindheit. Sein Großvater, seinerzeit Physiker in Göttingen, hatte ihm ein Buch über kuriose Weltbilder zum Lesen gegeben. „Die Vorstellung, auf der Innenseite einer Hohlkugel zu leben, hat mich besonders fasziniert.“ |
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Person | Von Bernd Flessner |
Vita | Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, aus Uehlfeld kennt die Innenwelttheorie seit seiner Kindheit. Sein Großvater, seinerzeit Physiker in Göttingen, hatte ihm ein Buch über kuriose Weltbilder zum Lesen gegeben. „Die Vorstellung, auf der Innenseite einer Hohlkugel zu leben, hat mich besonders fasziniert.“ |
Person | Von Bernd Flessner |