Überfahrt nach Palmenland

Sudan und Saudi-Arabien. Hüben Ruinen, drüben Glitzerwelt. Zwei Welten, tausend Glücksritter, aber Heimat ist immer nur eine

Suakin

Einst verbannte der Prophet Salomon alle Dschinn, alle Geister also, auf eine Insel an der Rotmeerküste des Sudans. Die kleine Insel, 400 Meter im Durchmesser, war das Sidschinn, das Gefängnis der Geister. Sidschinn, so geht die Legende, wandelte sich zu der Hafenstadt Suakin, aus der die Schätze des Sudans nach Dschidda in Arabien gebracht wurden: Butter von Schafen und Kamelen, Mais, Sklaven. Bis die Engländer Anfang des vergangenen Jahrhunderts Suakin zerstörten, ganz ohne Kanonen und Brandfackeln. Sie bauten 60 Kilometer weiter einen neuen Hafen, Port Sudan, weil es dort weniger Riffe gab. In den zwanziger Jahren begann der Niedergang, erinnert sich der 94 Jahre alte Hussein. Immer mehr Handelsleute verließen Suakin, gingen nach Port Sudan oder übers Rote Meer nach Dschidda.

Hussein heiratete in seinem Leben fünf Frauen und ließ sich nach jeweils fünf Jahren von den ersten vier wieder scheiden, denn "keine von ihnen konnte Kinder gebären". Es war, als sei die Insel mit einem Fluch des Todes belegt. Die prächtige Altstadt verfiel beinahe so schnell wie die toten Kamele, die am Rand der Straße nach Port Sudan liegen. Bei mehr als 40 Grad im Schatten werden ihre Kadaver immer flacher, Rippen staken in die Luft wie in Suakin die Deckenbalken aus dem Schutt der einst dreistöckigen Häuser.

Mit den Geistern komme er gut aus, manchmal tränken sie zusammen Tee und redeten über früher, erzählt Hussein. "Suakin war eine prächtige Stadt. Im Palast des Händlers Schinawi gab es 365 Zimmer. Für jede Frau eines, wie es hieß. Bündel von Straußenfedern und Stapel von Elefantenstoßzähnen lagerten in den Magazinen. Auf dem Boden lagen edle Teppiche, importiert aus Dschidda."

In den Gassen der Inselstadt verwandelten Juweliere Goldbarren zu Geschmeide für die Bräute Arabiens. Die 200 Häuser hatten schwere Türen aus javanischem Teak und Erker aus indischem Redwood mit kunstvoll geschnitzten Gittern, durch die ein kühlender Luftzug ins Innere strich und die Frauen nach draußen blicken konnten, ohne gesehen zu werden. Pilger, die auf ihrem Weg durch die nubische Wüste nicht verdurstet oder von Räubern erschlagen worden waren, schifften sich ein, um in Mekka zu beten, der heiligsten islamischen Stätte, 60 Kilometer nördlich von Dschidda.

Dass die Kolonialherren Suakin den Todesstoß versetzten, liege nicht an den besseren Schifffahrtsbedingungen in Port Sudan, erzählen Großväter den Enkeln. Aus Suakin kam Osman Digna, der 1883 der anglo-ägyptischen Armee mit seinen Kämpfern vom Stamm der Beja bittere Verluste beibrachte. Die "Inglesi" hätten deshalb beschlossen, Dignas Heimatstadt auszulöschen. Dass Osman Digna erst zum Kämpfer für Islam und Freiheit geworden war, weil die Kolonialherren sein Geschäft eindämmen wollten, erzählen die Alten den Enkeln nicht: Digna war Sklavenhändler.


Hinfahrt

Wo Palmen wachsen, da ist Wasser, Schatten, Nahrung. 800000 Sudanesen haben sich nach Saudi-Arabien, in das Land mit der Palme in seinem Staatswappen, aufgemacht. Gegenüber der Ruineninsel liegt im Osman-Digna-Port die "Sara" vor Anker, eine 100 Meter lange Autofähre, in der es nach Maschinenöl riecht. Sie bringt Techniker, Computerexperten, Lehrer, Lastwagenfahrer, Buchhalter, Übersetzer und Kamelhüter über das Rote Meer. In saudischen Krankenhäusern arbeiten 800 sudanesische Ärzte. Ein Lehrer verdient im Sudan 40 Euro im Monat, in Saudi-Arabien 400.

Die "Sara" stampfte vor ein paar Jahren noch durch die Gewässer der Kanaren. Niemand fand es der Mühe wert, die spanischen Schilder gegen arabische auszutauschen. Im Salon "Gran Canaria" sitzt ein junger Mann und faltet lächelnd eine Urkunde auseinander. Sie besagt, dass er, Mohammed Salah Abdala Babikir, an der Hochschule in Khartoum einen Bachelor in Landwirtschaft erworben hat. Außerdem weiß er mit Computern umzugehen, und als der saudische Inhaber eines Baugeschäfts sich an die Behörden wandte und diese seine Suche nach einem Verkaufsmanager an die sudanesischen Ämter weitergaben, wählten die Beamten Mohammed aus. Also verkaufte er die Kuh, die sein Vater dem Erstgeborenen gegeben hatte, und verteilte das Geld in der Familie.

"Ich möchte nach Europa gehen, einen Master machen, dann einen Doktor und als Professor zurückkehren, um meinem Land zu helfen." Die Mutter hat Angst vor Europa. "Dort schlagen sie dich tot." Seine 17 Jahre alte Verlobte Mariam würde gerne mitkommen. Sie haben über die Zukunft geredet, als sie in Khartoum am Ufer des Blauen Nils saßen und Cola tranken. Sie will zwei Söhne und eine Tochter. Er will drei Jungen und zwei Mädchen. Plötzlich erschallt ein langgezogener Ruf aus den Lautsprechern im Salon: "Allahu akbar." "Gott ist groß", murmelt Mohammed leise.

Nach 14 Stunden und 170 Seemeilen steht Mohammed am nächsten Morgen an der Reling, die Brise trifft sein Gesicht mit der Wärme eines Haarföns. Im Dunst tauchen die Kräne des "Islamic Port" von Dschidda auf. "Ich bin glücklich", sagt Mohammed. "Heute Nacht habe ich von meiner Freundin geträumt." Er träumte, wie sie beim Abschied weinte. Und sie liebten sich in dem Traum. In der Wirklichkeit jedoch hat er Mariam noch nicht berührt, nur zur Begrüßung und zum Abschied die Hand gegeben. Sie wird auf ihn warten, kein Zweifel. Vielleicht kann er in zwei Jahren zum ersten Mal zurückfahren nach Khartoum und sie heiraten.

Dschidda

Auch Sami Saleh Nawar träumt, nämlich davon, die Schönheit der "Braut des Meeres" zu erhalten. So nennen die Bewohner Dschiddas ihre Stadt. "Ich war in Lübeck. Die Kollegen dort haben die gleichen Gegner wie ich", ruft Stadtplaner Nawar, ein Mann, der für seine Sache brennt. "Die Gegner sind Männer, die die Wörter Fortschritt und Entwicklung missbrauchen!" 60 Prozent der Häuser in der Altstadt Dschiddas sind verloren, ersetzt durch Stahlbeton. Aber 500 weiße Korallensteinhäuser gibt es noch im gleichen Baustil wie einst in Suakin, mit blau, grün und rotbraun gestrichenen Holzerkern und blickdichten Gitterfenstern. Viele Häuser sind in trostlosem Zustand, manche zerbröckeln über den Köpfen der Passanten. Für 200 Häuser hat Sami Saleh Nawar mit den Besitzern die Erhaltung ausgehandelt. Die Stadt gibt finanzielle Hilfen und mietet verlassene Häuser an. Nawar lässt sie von alten Handwerkern und ihren taubstummen Lehrlingen restaurieren.

Im Ölboom vor zwei Jahrzehnten wurden pro Jahr vier Millionen Tonnen Zement und eineinhalb Millionen Tonnen Eisen im "Islamic Port" angelandet, damit sich die Stadt, eingezwängt zwischen dem Meer und dem 18 Kilometer entfernten Asir-Gebirge, nach Süd und Nord in die Wüste fressen konnte, ein 100 Kilometer langer Streifen aus Beton, Asphalt, Lichtmasten und wummernden Klimaanlagen, Wohnplatz für zweieinhalb Millionen Menschen. Die Stadt dehnt sich auf der tausendfachen Fläche von 1947 aus, als innerhalb der noch nicht geschleiften Mauern gerade einmal 40000 Einwohner lebten. Süßwasser aus den vier riesigen Meerwasserentsalzungsanlagen labt den üppigen Rasen auf den Verkehrsinseln der Corniche, der sechsspurigen Uferstraße.

Mohammed, 30, führt ein Leben wie Tausende andere Taxifahrer in Dschidda. Er fährt jeden Tag 600 Kilometer, das macht im Jahr 219000 Kilometer, denn Mohammed arbeitet an 365 Tagen. Er fährt 12 bis 14 Stunden, Halt macht er nur zum Mittagessen und zum Beten. Nur so fährt der Pakistaner in die schwarzen Zahlen.

Abdul Rahman Turkistani hat es besser. Er ist jeden Tag umgeben mit dem, was ihm wichtig ist: vier Kinder, ein Saab Cabrio, eine Frau. Sein Thob, das knöchellange Gewand, ist immer frisch gestärkt und blütenweiß, sein rot-weiß gemustertes Schomag auf dem Kopf von der besten Qualität, in einer Manufaktur in England gewebt. Turkistani hat Journalismus studiert und ein paar Monate lang in einer Tageszeitung gearbeitet. "Es war fürchterlich. So viel Arbeit!" Dann fand er, Gott sei's gedankt, eine Stelle beim Informationsministerium. Seine Aufgabe ist es, auf ausländische Journalisten bei ihren Recherchen aufzupassen. Auf Fragen antwortet er meist: "Das muss ich untersuchen." Nie kommt er darauf zurück. Auf dem Schafmarkt, wo Hunderte von Sudanesen Suakini-Schafe feilbieten, redet er mit den Hütern laut wie ein Lehrer vor der Klasse. Zurück im klimatisierten Wagen sagt er: "Ich kann den Geruch nicht aushalten. Ich brauche eine Dusche."

Viele junge Einheimische sind arbeitslos und zu Tode gelangweilt, es gibt keine Pubs, keine Diskotheken, keine Kinos, und das saudische Fernsehen ist zensiert. In dem Thriller "Der Feind in meinem Bett", in dem Julia Roberts von ihrem tyrannischen Ehemann verfolgt wird, sind die Gewaltszenen zu sehen, aber jede Zärtlichkeit ist herausgeschnitten. Doch über Satellitenschüsseln sind westliche Privatsender zu empfangen.

Abir Mischchas, 39, gehört zu der größten Gruppe der Benachteiligten im Königreich Saudi-Arabien: den Frauen. Sie sitzt vor einem Poster mit Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrring" in einem fensterlosen Kämmerchen der "Arab News", nicht im Großraumbüro, weil Männer und Frauen nicht im selben Zimmer arbeiten dürfen. In ihrer aktuellen Kolumne klagt sie vorsichtig darüber, dass es Frauen verboten sei, ein Auto zu steuern, sie aber vor Gericht persönlich haftbar gemacht werden, wenn ihr angestellter Fahrer einen Unfall verursache.

Rückfahrt

Die Fähre, in den sechziger Jahren gebaut, um zwischen dänischen Inseln zu pendeln, legt nach Sonnenuntergang ab. 500 sudanesische Gastarbeiter, einige von ihnen mit ihrer Familie, sind an Bord der "Al-Abud", um der Fron für einige Monate zu entkommen. Vorsichtig steigen die Menschen über schlafende Kinder auf den Gängen und über die hennabemalten Füße der Frauen. Wenige Privilegierte klettern über Stiegen zu den Kabinen unter Deck, in denen es nach Diesel riecht, aber Klimaanlagen etwas Kühlung versprechen. Viele Passagiere stehen in ihren weißen Gewändern und Turbanen am Heck und blicken zurück auf Dschidda - ein Lichtband, das sich von Norden bis Süden über den Horizont zieht. Das weiße Segel der King-Fahd-Fontäne verschwindet zuletzt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 40. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 40

No. 40Oktober / November 2003

Von Bernd Hauser und Andrew Testa

Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur Zeitenspiegel. Er lebt in Brüssel und nimmt mit Vorliebe die Fähre nach seiner Lieblingsstadt Kopenhagen.

Der britische Fotograf Andrew Testa, geboren 1965, musste trotz Genehmigung in Saudi-Arabien heimlich fotografieren. Auf einer dänischen Fähre nach Dschidda zu fahren empfand er als ähnlich merkwürdig wie das U-Boot in der ukrainischen Steppe, das er für mare No. 35 fotografierte.

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Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur Zeitenspiegel. Er lebt in Brüssel und nimmt mit Vorliebe die Fähre nach seiner Lieblingsstadt Kopenhagen.

Der britische Fotograf Andrew Testa, geboren 1965, musste trotz Genehmigung in Saudi-Arabien heimlich fotografieren. Auf einer dänischen Fähre nach Dschidda zu fahren empfand er als ähnlich merkwürdig wie das U-Boot in der ukrainischen Steppe, das er für mare No. 35 fotografierte.
Person Von Bernd Hauser und Andrew Testa
Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, ist freier Autor der Agentur Zeitenspiegel. Er lebt in Brüssel und nimmt mit Vorliebe die Fähre nach seiner Lieblingsstadt Kopenhagen.

Der britische Fotograf Andrew Testa, geboren 1965, musste trotz Genehmigung in Saudi-Arabien heimlich fotografieren. Auf einer dänischen Fähre nach Dschidda zu fahren empfand er als ähnlich merkwürdig wie das U-Boot in der ukrainischen Steppe, das er für mare No. 35 fotografierte.
Person Von Bernd Hauser und Andrew Testa