Tod in der Schweinebucht

Geheimnisvolle Mikroorganismen bringen Küstenstriche im Osten der USA in Gefahr

Der Niedergang von Howard Glasgow vollzog sich langsam. Es gab frühzeitige, deutliche Hinweise – hämmernde Kopfschmerzen, Phasen mentaler Verwirrung –, doch so sporadisch, daß sie eher rätselhaft blieben. Achtzig bis hundert Stunden in der Woche, die er im Labor verbrachte, ließen seine Symptome als Überarbeitung erscheinen. Doch im Herbst 1993 wußte seine Frau Aileen, dass irgend etwas im Gange war.

Die Vergesslichkeit des 37jährigen Wissenschaftlers der North Carolina State University in Raleigh nahm bedenkliche Ausmaße an. Sagte sie ihrem Mann am Morgen, er möge Milch mitbringen, so hatte er am Abend nicht nur die Milch vergessen, er konnte sich nicht einmal an ihr Gespräch erinnern. Doch noch beängstigender waren seine Wutausbrüche. Eines Nachts, so erinnert sich Aileen Glasgow, kam Howard nach Hause und weckte sie in ungehaltener Wut über ein „nicht ordnungsgemäß aufgewickeltes“ Kabel des Staubsaugers im Schrank. „Nicht dass er darüber gestolpert wäre, es hatte ihn einfach nur gestört.“

Am nächsten Morgen konnte sich Howard an nichts erinnern. Ein monatelanger Albtraum begann.

Howard litt an permanenten Kopfschmerzen und Schwindel. Dann kamen die Hautinfektionen, tiefe, offene Wunden von zwei Zentimetern Durchmesser. Zuerst waren es nur einzelne, auf Händen und Armen, die nur langsam ausheilten, um durch neue ersetzt zu werden. Dann zogen sie sich über seinen ganzen Körper. Der Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses weitete sich aus, seine mentalen Fähigkeiten sanken und seine Gemütsschwankungen nahmen zu. Die Ärzte waren ratlos. Man vermutete einen Gehirntumor oder Alzheimer, aber die klinischen Tests widerlegten dies.

Auch bei seiner Arbeit wurde Howard, geschätzt als umsichtiger und gewissenhafter Wissenschaftler, zunehmend schlampig, mürrisch, sarkastisch – und unzuverlässig. Gemeinsam mit JoAnn Burkholder, Professorin für Botanik, arbeitete er an der Erforschung eines mysteriösen, neuen, einzelligen Organismus, den sie entlang der Küste North Carolinas entdeckt hatten.

JoAnn Burkholder kam eher zufällig als willentlich in diese Forschung, als sie vor neun Jahren einen Anruf von Doktor Ed Noga, einem Kollegen des Veterinärmedizinischen Institutes der State University erhielt. Eines Morgens entdeckten Doktor Noga und sein Student, dass alle Fische in ihren Versuchstanks gestorben waren. Setzten sie neue Fische hinzu, so starben auch diese in nur wenigen Minuten. Zuerst waren sie träge und desorientiert, dann wie in Panik, und wenn sie starben, lösten sich große Streifen ihrer Haut. Der einzige Hinweis auf die Ursache des Fischsterbens: ein bräunlicher Nebel im Wasser.

Als JoAnn Burkholder die Wasserproben unter dem Mikroskop betrachtete, wurde offensichtlich: Der „braune Nebel“ bestand aus Millionen Exemplaren eines einzelligen Organismus, bewehrt mit zwei peitschenförmigen Geißeln, mit denen er sich durchs Wasser trieb. Nur binnen ein bis zwei Stunden, nachdem der letzte Fisch gestorben war, waren die Zellen verschwunden. Im Sediment eines der Fischtanks entdeckte JoAnn einige harmlos aussehende, stachelige Zysten – Ruhestadien irgendeiner Algenart, dachte sie.

Nach Monaten über dem Mikroskop wurde klar, dass die Anwesenheit lebender Fische die Transformation der Zysten in kleine begeißelte Mörderzellen katalysiert, die ein aggressives Gift freisetzen und durch einen trompetenähnlichen Fortsatz, den Peduncle, Stücke abgefallenen Fischfleisches aufnehmen. Nachdem ihr schier endloser Appetit gestillt ist, verändern sie ihre Gestalt erneut, teilweise in Amöben, teilweise in Schwärmer, und letztlich in die mit stacheligem Panzer versehenen Zysten, die so robust sind, dass sie selbst ein Bad in konzentrierter Schwefelsäure unbeschadet überstehen.

Insgesamt sind heute 24 verschiedene Lebensstadien dieses Organismus bekannt, der von den Forschern Pfiesteria piscida getauft wurde – die „Fischfressende“. Einige sind giftig, andere nicht. Dieser zur Gruppe der Dinoflagellaten gehörige tierische Organismus vermag in einigen Lebensstadien sogar Algen nachzuahmen. Dann frisst Pfiesteria andere planktische Algen. Aber anstatt sie zu verdauen, behält sie deren Chloroplasten, diejenigen Zellbausteine, mit denen die Pflanzen ihre Photosynthese betreiben, zurück. Wie eine echte Alge kann Pfiesteria dann von Licht und Kohlendioxid leben.

JoAnn Burkholder und ihre Kollegen fanden Pfiesterias Ursprung im Albermale-Pamlico Sound an der Küste North Carolinas, von wo Doktor Noga sein Wasser für die Fischtanks bezog. Schließlich konnten sie am 23. Mai 1991 den Organismus auf frischer Tat ertappen: Kevin Miller, Wasserchemiker der staatlichen Umweltbehörde, traf während seiner Routineüberwachungen der Küstengewässer auf einen kaffeebraunen Schleim, der das Wasser überzog; darin unzählige tote und sterbende Fische. An den nächsten zwei Tagen sammelte Miller Wasserproben und sandte sie an JoAnn Burkholder. Ohne Zweifel waren diese voll von dem Organismus, den sie zuvor in Nogas Fischtanks gesehen hatte.

Inzwischen sind mehr als zweihundert große Fischsterben in den Küstengewässern North Carolinas während der letzten fünf Jahre auf Pfiesteria zurückzuführen. Der Verlust an Fischen und Muscheln wird auf eine Milliarde Tiere geschätzt. Allein während eines großen Fischsterbens im Sommer 1995 im Neuse River, der in den Pamlico Sound mündet, starben 14 Millionen Tiere mit den gleichen offenen Wunden, die Howard Glasgow erlitt. Die Strände waren übersät mit toten Fischen, die von Bulldozern beiseite geräumt wurden. Und ähnliche Szenarios wiederholten sich seit 1989 alljährlich mehrfach im Sommer und Herbst in den Flußmündungen und Küstengewässern North Carolinas.

Howard Glasgows Zustand erreichte seinen Tiefpunkt im Dezember 1993. Beim Öffnen eines der mit Pfiesteria gesättigten Aquarien spritzte Wasser auf seine Unterarme. „Die benetzte Haut wurde sofort rot und begann zu brennen, und nach kurzer Zeit entwickelte sich ein heftiger Ausschlag“, das ist alles, woran er sich erinnern kann. Mit letzter Kraft und im „geistigen Nebel“, wie Howard es nennt, gelangte er nach Hause. Am nächsten Morgen erschien ihm die Morgenzeitung wie Hieroglyphen. Einfache Rechenaufgaben waren unmöglich für ihn zu lösen. Zwei Tage später vermochte er nicht mehr, seinen Weg von der Arbeit nach Hause zu finden, und irrte stundenlang in der Stadt herum, obgleich er schon sieben Jahre in seinem Haus wohnte. Klinische Tests ergaben, dass sein Nervensystem über Monate einem chemischen Angriff ausgesetzt war, Herzschlag und Blutdruck waren anormal, Leberenzyme besorgniserregend hoch, und seine Nieren schieden erhöhte Phosphatmengen aus.

JoAnn Burkholder verfolgte den Verfall des von ihr so hoch geschätzten Mitarbeiters und Freundes seit langem mit großer Sorge. Mit der Zeit erkannte sie, dass die Symptome denjenigen ähnelten, die sie selber zu Beginn ihrer Arbeit mit Pfiesteria erlitten hatte. Aufgrund ihrer Erfahrungen mussten die Arbeiten mit Pfiesteria Ende 1991 eingestellt werden, und die NC State University stellte 65000 Dollar bereit, um ein Sicherheitslabor für weitere Arbeiten zu errichten. In einer entlegenen Ecke des Campus wurde ein Laborcontainer errichtet, der im Inneren in eine „heiße“ Zone für Arbeiten mit offenen Pfiesteria-Kulturen und eine „kalte“ Zone aufgeteilt war. Die Luft sollte nur von der kalten in die heiße Zone strömen, und Ventilatoren sollten für einen zwölfmaligen Luftaustausch in jeder Stunde sorgen.

Erst Ende 1993, nach dem nahezu völligen Zusammenbruch Howard Glasgows, offenbarte sich JoAnn die schlimmste Erkenntnis während ihrer Arbeit mit der Giftalge. Durch eine falsche Installation des Abluftsystems strömte die Luft aus der heißen Zone in die Klimaanlage der kalten Zone; über Monate wurde Howard an seinem Schreibtisch in der kalten Zone direkt mit den Giftgasen der Pfiesteria-Kulturen überströmt. Der direkte Zusammenhang seiner Krankheit mit den Pfiesteria-Toxinen war erstellt.

JoAnn und Howard hatten es nicht einfach, die Wissenschaftsgemeinde von der Existenz Pfiesterias und ihrer Toxizität zu überzeugen. Nicht nur war deren einzigartiger Lebenszyklus so unglaublich. Giftige Algenblüten waren zwar seit langem bekannt. Mehr als fünfzig Arten sind als toxisch für Fische, Muscheln und gar den Menschen beschrieben. Etwa zweitausend Menschen ereilt alljährlich das Unglück, mit Algentoxinen vergiftete Fische oder Muscheln zu essen. Die Auswirkungen der Toxine können von Schwindel und Durchfall bis zu Gehirnschäden und zum Tod führen. Dass ein algenartiger Organismus aggressives Gift ins Wasser entlässt, war jedoch bislang unbekannt; dass er es gar zur gezielten „Jagd“ auf Fische tut, schlicht undenkbar.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 2. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Von Frank J. Jochem

Frank J. Jochem ist Professor für Biologische Meereskunde an der Florida International University in Miami.

Mehr Informationen
Vita Frank J. Jochem ist Professor für Biologische Meereskunde an der Florida International University in Miami.
Person Von Frank J. Jochem
Vita Frank J. Jochem ist Professor für Biologische Meereskunde an der Florida International University in Miami.
Person Von Frank J. Jochem