Tinte, Tarnung und Tentakel

Tintespucken, Düsenrückstoß und Farbenspiel: Die Kopffüßer gelten als Meister der Anpassung

Langsam heben sich die beiden Arme in die Höhe. Gespannt richten sich die Augen auf das unbekannte Gegenüber. Wellen der Erregung durchfahren die braun-weiß gefärbte Haut. Unablässig pendeln die Augen einzeln in Richtung des fremden Ungewissen. Da bewegt das Gegenüber sich leicht nach vorne und hebt ebenfalls beide Arme in die Höhe! Enttäuscht sinken die beiden Arme zu den anderen Armen: Es sollte diesmal wohl mit dem amourösen Abenteuer nicht klappen.

Das Schauspiel, wenn zwei männliche Tintenfische der Art Sepia officinalis sich treffen und ihre Tentakel zur Erkennung heben, zeugt von den komplexen Verhaltensmustern, die sich im Laufe der Evolution bei einer der erfolgreichsten Tierklassen der Ozeane entwickeln konnten. Das „Armehochheben“, das von den Männchen zur Identifizierung der nicht so reagierenden weiblichen Sepien eingesetzt wird, ist nicht das einzig Faszinierende in der Biologie von Tintenfischen.

Die irreführende Bezeichnung Tintenfisch – es sollte besser Tintenschnecken heißen, denn sie haben nichts mit Fischen zu tun – weist zumindest auf eine andere Besonderheit: den Besitz der Tinte, einer sepiabraunen Drüsensubstanz. Mit ihrer Hilfe können sich fast alle Tintenfische bei Gefahr mit einer Wolke umgeben und entfliehen. Bei einigen Arten wird die Wolke dabei so geschickt ausgestoßen, daß sie die Körperkontur nachahmt und quasi als Phantom den Angreifer in die Irre führt. Reizstoffe lähmen dann zusätzlich die Sinne des angreifenden Räubers.

Nicht alle Tintenfische haben eine Tintendrüse. Gemeinsam ist den Mitgliedern dieser Tierklasse aber der papageienartige, kräftige Schnabel und die langen armartigen Fortsätze im Kopfbereich, an denen meist Saugscheiben sitzen. Letzteres Merkmal führte zum wissenschaftlichen Namen Kopffüßer oder Cephalopoda (griech. kephale = Kopf, podos = Fuß). Sie sind der Gipfel in der Entwicklung der Mollusken, der Weichtiere, zu denen auch die verwandten Muscheln und Schnecken gehören, und stellen die höchste Organisationsstufe der wirbellosen Tiere dar. Die etwa 1000 verschiedenen lebenden Arten verteilen sich auf die vier größeren Gruppen der Perlboote, Kalmare, Sepien und Oktopusse. Schon seit dem Kambrium, seit über 500 Millionen Jahren, bevölkert diese Tierklasse erfolgreich die Meere, und über 11000 ausgestorbene Arten sind nachgewiesen.

So lebt im Westpazifik, zwischen 50 und 600 Meter Wassertiefe, eine urtümliche Tintenfischgruppe, die durch den Besitz einer Kalkschale als „lebendes Fossil“ gelten kann. Diese sogenannten Perlboote – bestehend aus fünf Arten der Gattung Nautilus – sind letzte Zeugen der ursprünglichen, schneckenähnlichen Vorfahren der Kopffüßer. Schalentragende Vorfahren waren zum Beispiel die Ammoniten (Ammonshörner), gigantische Formen mit Schalen von 2,50 Meter Durchmesser. Aber am Ende der Kreidezeit, vor 70 Millionen Jahren, verschwanden diese urzeitlichen Jäger mit dem Aufkommen der sie jagenden Fische relativ plötzlich.

Wie die Ammoniten versteckt Nautilus seinen weichen Körper aus Kopf, Eingeweidesack, Fuß und Mantel in einer spiralig geformten Kalkschale, die vom Mantelrand gebildet wird. Ähnlich wie eine Austernmuschel hat der Körpermantel die Fähigkeit erhalten, Perlmutt auszusondern und das Gehäuse mit dieser glänzenden Schutzsubstanz zu überziehen. Aufgesägt zeigt sich im Inneren der Schale eine Spirale, die die Schönheit der Mathematik zeigt und von Descartes zuerst beschrieben wurde: Die Kammerngeometrie wird nach außen zunehmend größer und folgt einem proportionalen gleichwinkeligen Muster. Seine von Touristen begehrte Schale, von der jährlich immer noch mehr als 25000 Stück, die meisten von lebenden Tieren, gesammelt werden, wird womöglich dem vom Aussterben bedrohten Nautilus zum Verhängnis.

Die anderen heutigen Tintenfischgruppen haben keine äußere Schale mehr. Bei den zehnarmigen Kalmaren (Teuthoidea) und Sepien (Sepioidea) dient dagegen das als Schulp bezeichnete kalkige Innenskelett als Auftriebsorgan. Der schwimmfähige Schulp ist oft an unseren Stränden und häufig als Schnabel-Wetzstein in Vogelkäfigen zu finden. Im Laufe der Evolution wurde es für diese schalenlosen Formen wichtig, sich rasch vor ihren Räubern in Sicherheit bringen zu können. So bildete sich eine torpedoartige Körperform heraus, um pfeilschnell durchs Wasser jagen und ausreißen zu können. Kalmare sind darin wahre Geschwindigkeitsmeister. Zwar schwimmen sie normalerweise schon sehr geschmeidig mit Hilfe ihrer saumartigen Seitenflossen. Zusätzlich aber wurde aus dem Mantel durch Verbreiterung und Einrollen eine Art Düse entwickelt, durch die eine Muskelkontraktion das Wasser ruckartig zur Fortbewegung herauspreßt. Durch diesen Rückstoßantrieb, bei dem die Tiere rückwärts schwimmen, können sie bis auf 80 Stundenkilometer beschleunigen. Einige Arten nutzen dieses Rückstoßprinzip sogar in der Weise, daß sie bis zu 100 Meter weit über der Wasseroberfläche „fliegen“, um sich vor jagenden Feinden in Sicherheit zu bringen. Die Riesenart Dosidicas gigas im Südpazifik ist sogar in der Lage, Thunfische, immerhin mit die schnellsten Fische im Ozean, zu jagen – bei einer Länge von bis zu vier Metern und einem Gewicht von 100 Kilogramm eine enorme Leistung dieses Düsenprinzips.

Die meisten Kalmare leben in großen Schwärmen im offenen Ozean und sind jedem Liebhaber unter dem Sammelbegriff „Calamares“ aus dem Restaurant bekannt. Aber Kalmare sind auch die größten wirbellosen Tiere der Erde. Architeuthis dux, der Riesenkalmar der Tiefsee, erreicht hierbei inklusive Tentakeln bis zu 22 Meter Länge. Viele dieser riesigen Tiefseeformen hat man noch nie gefangen oder lebend beobachtet, aber man kann aus dem Mageninhalt von Pottwalen, in denen Arme mit Längen von acht Meter, aber auch Augen von 25 Zentimeter Durchmesser gefunden wurden, die gewaltige Größe dieser Tiere erahnen. Andere Kalmare hingegen haben eine Größe von nur wenigen Zentimetern.

Die bodenbewohnenden Sepien unserer Küsten sind wahre Meister der Tarnung. Blitzschnell graben sie sich im Meeresboden ein, und die Haut nimmt die Farben und Textur der Umgebung an. So versteckt im Sand können sie erfolgreich vorbeikommenden Fischen und Garnelen auflauern und sind selber vor Feinden sicher. Ermöglicht wird diese Kunst der Tarnung durch spezielle, als Chromatophoren bezeichnete Zellgruppen in der Haut. Normalerweise bewirkt der in kleinen sackartigen Zellen eingelagerte Farbstoff Melanin eine dunkle Färbung der Haut. Um diesen Pigmentsack sind jedoch Muskeln ausgebildet. Erschlaffen die Muskeln, schrumpft der Pigmentsack zu einem kleinen Punkt, und die Färbung der Haut wird heller. Durch das unterschiedliche Öffnen oder Schließen dieser Chromatophoren und die variierende Menge an Farbstoffen ergeben sich die vielen Orange- bis Brauntöne der Tintenfische. Ähnliche Mechanismen der Farbanpassung finden sich auch bei anderen Tieren, etwa dem bekannten Chamäleon. Doch im Gegensatz zu diesen sind die Muskeln der Chromatophoren bei den Tintenfischen direkt mit Nerven versorgt. Dies ermöglicht einen Farbenwechsel in Bruchteilen einer Sekunde.

Tausende dieser Farbzellen auf der Haut erlauben es den Tintenfischen nicht nur, die Farbstimmungen der Umwelt rasch anzunehmen, sondern auch der eigenen Gefühlswelt Ausdruck zu verleihen und sich mit anderen Artgenossen zu verständigen. Die Kommunikation der Tintenfische durch Farbe kann eindrucksvoll beim Liebesspiel zweier Sepien beobachtet werden. Die Männchen duellieren sich quasi mit Farbwellen, um bei den Weibchen dann endlich Farbe bekennen zu können. Zum ritualisierten Werben der Männchen gehört zum Beispiel die braunweiße Musterung. Während jedoch die eine Körperseite durch die Farbmuster Balzbereitschaft anzeigt, kann die andere Seite gleichzeitig abschreckende Signale an konkurrierende Männchen darstellen.


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mare No. 9

No. 9August / September 1998

Von Onno Groß

Onno Groß, 1964-2016, war promovierter Meeresbiologe und arbeitete als freier Journalist in Hamburg. In mare No. 16 schrieb er über Fliegende Fische. Er war Vorsitzender der Initiative Deepwave.

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Vita Onno Groß, 1964-2016, war promovierter Meeresbiologe und arbeitete als freier Journalist in Hamburg. In mare No. 16 schrieb er über Fliegende Fische. Er war Vorsitzender der Initiative Deepwave.
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Vita Onno Groß, 1964-2016, war promovierter Meeresbiologe und arbeitete als freier Journalist in Hamburg. In mare No. 16 schrieb er über Fliegende Fische. Er war Vorsitzender der Initiative Deepwave.
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