Solowki, der Ur-Gulag

Ein orthodoxes Kloster auf einer einsamen Insel an Russlands Nordmeerküste trägt eine schwere historische Last: Der Gottesort war Keimzelle der Gulags, der sowjetischen Konzentrationslager

Ich kenne auf der Erde keine anderen Inseln mit einem so umstrittenen und skandalösen Ruf wie die Solowki, die Solowezker Inseln im äußersten Norden Russlands. Die einen halten sie für die Hölle, die anderen für das Paradies. Die einen pilgern hierher ins Kloster, um für hoffnungslos kranke Kinder zu beten. Die anderen hassen die Solowki: Hier befand sich das erste sowjetische Konzentrationslager SLON – Solowezki lager osobogo nasnatschenija, Solowezker Lager zur besonderen Verwendung. Das SLON wurde zum blutigen Versuchslabor und Prototyp des Gulags.

Heute liefern sich auf den Solowki Hölle und Paradies einen gnadenlosen Kampf. Das Klosterparadies der orthodoxen Kirche mit Engelsgesang auf dem Kliros, dem Sängerplatz, lässt allmählich die Erinnerung an die stalinsche Hölle des Konzentrationslagers verblassen, indem es die Spuren des Schreckens auf den Inseln verwischt und hinter die bescheidenen Mauern des örtlichen historischen Museums verlegt. Die Hölle bringt sich mit den Massengräbern der Gefangenen in Erinnerung, mit Büchern, mit Forschungen und mit dem Gedächtnis von Generationen. Die liberale Intelligenzija hält das süßliche, pathetische Klosterleben für ein orthodoxes Disneyland.

Um die Solowki zu verstehen, muss man sich offenbar über diesen Zweikampf erheben. Aber ob ein Mensch die Kraft hat, das zu tun?

Das Weiße Meer. Die südliche Bucht des Eismeers. Hier, heißt es, ende der warme Golfstrom, dabei ist dies in Wirklichkeit das Reich der heulenden Wirbelstürme. Die unschuldige Natur der gelben Moltebeeren, Pilze und Flechten läuft hier mit vom Wind gelüpften Rockschößen umher. Auf der Großen Solowezker Insel erhebt sich in der zugigen „Bucht des Wohlergehens“ auf ewig der düstere alte Kreml, das Festungskloster. Mauern aus eiszeitlichen Felsblöcken, Findlingen, die bis zu elf Tonnen wiegen. Steine, bedeckt von grünem und rotem Moos, die wie kranke Augen tränen. Eine wahre Klagemauer. Jenseits der Mauer ragen weiße Kirchen mit nebelgrauen Zwiebelkuppeln und orthodoxen Kreuzen in den Himmel. Ich fliege aus Archangelsk auf die Solowki, und was sehe ich?

Renovierung, wohin das Auge blickt! Das Kloster hat sich in unseren Tagen in eine gigantische Baustelle wie zu Zeiten des Kommunismus verwandelt. Rund um die Uhr wird geschuftet. Bei gleißendem Scheinwerferlicht. In der nordischen Sonne blitzen die orangen und weißen Helme der Bauarbeiter. Glockengeläut. In der Hauptkirche des Kremls wird die Ikonostase wiederhergestellt. Die heutige orthodoxe Kirche, in inniger Umarmung mit dem Staat, liebt Pomp und Herrlichkeit. Es hängen noch keine Ikonen, an ihrer Stelle gähnen Löcher, aber Blattgold vom Boden bis zur Decke blendet schon jetzt das Auge. Die Arbeiter sind bestens gelaunt, von den hohen Baugerüsten winken sie einem zu für Erinnerungsfotos! Die jungen übermütigen Poliere sind stolz: Schau her, Schriftsteller, wir haben hier weiße Wände wie aus Zuckerguss, alles nach altem Rezept, fühl mal, wie glatt und süß! Wir werden von zwei Flügeln beschirmt – vom Patriarchen und vom großzügigen Kulturministerium. Uns geht’s großartig!

Wie gern wäre ich nur ein einziges Mal der proletarische Schriftsteller Maxim Gorki! 1929 lud der NKWD, das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, ihn mit seiner ganzen Familie auf die Solowki ein. Nicht ohne Grund. Im Wes- ten gingen zu der Zeit bereits Gerüchte um, auf den Solowki würden politische Gefangene bei der Holzbeschaffung Sklavenarbeit verrichten. Das Holz ging in den Export nach Europa. Die Tschekisten – die besten Regisseure der sowjetischen Wirklichkeit – inszenierten für Gorki ein grandioses Theaterstück vom glücklichen Lagerleben. Gorki reagierte wunschgemäß. Er kehrte zufrieden nach Moskau zurück und erklärte, die UdSSR brauche dank solcher Umerziehungslager für die Feinde des Volkes bald nie wieder Gefängnisse.

Wie konnte Gorki den Märchen der Tschekisten bloß Glauben schenken, die an der Gulag-Pest erkrankten Solowezker Inseln preisen und die geistigen Kinder Dserschinskis besingen, die hier massenhaft Menschen erschossen?

Und ich? Muss ich denn überall nur das Schlechte suchen? Ich möchte mich wie in einen warmen Pelz in den rettenden allerneuesten Stil der russischen Publizistik hüllen, den orthodox-sozialen Realismus, und erzählen, die Solowki seien die Schmiede unseres Landes. Nicht umsonst sagten Stalins Gefangene hier auf der Insel: „Heute auf den Solowki – morgen in Russland.“ Was auf den Solowezker Inseln begonnen wurde, nahm das Land auf, lebte und durchlebte es bis auf die Knochen.

Über solche Dinge wird heutzutage im Gulag-Museum neben dem Kloster nicht oft gesprochen. Es ist in einem ordentlichen Zustand. Nur die Führungen sind langweilig. Ich stattete ihm einen Besuch ab. Die Museumsführerin spult ihren Text herunter. Hier, sagt sie, wurden soundsoviele Menschen erschossen. Und hier noch einmal halb soundsoviele. Junge Touristinnen beschäftigen sich im Halbdunkel des Museums mit ihren SMS, flüstern mit den Jungen, kichern. Ihnen wurde bereits erfolgreich weisgemacht, dass es in unserer Geschichte nie etwas Schlechtes gegeben hat, dass unsere ganze Geschichte vernünftig ist.

 


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mare No. 125

No. 125Dezember 2017 / Januar 2018

Von Viktor Jerofejew und Juan Manuel Castro Prieto

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, beschäftigt sich in seinen Werken bevorzugt mit den toten Seelen, die sein Land im Griff halten.

Juan Manuel Castro Prieto, geboren 1958, Fotograf in Madrid, litt spürbar unter der historischen Bürde, die dieser Ort trägt. Er wird durch die Agence VU vertreten.

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Vita Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, beschäftigt sich in seinen Werken bevorzugt mit den toten Seelen, die sein Land im Griff halten.

Juan Manuel Castro Prieto, geboren 1958, Fotograf in Madrid, litt spürbar unter der historischen Bürde, die dieser Ort trägt. Er wird durch die Agence VU vertreten.
Person Von Viktor Jerofejew und Juan Manuel Castro Prieto
Vita Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, beschäftigt sich in seinen Werken bevorzugt mit den toten Seelen, die sein Land im Griff halten.

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