Seefräulein passen nicht fürs Land

Die Geschichte und Geschichten von Meerjungfrauen

Nun sagt mir wohl der eine oder andere, diese Wundergeschichten seien erlogen, und hört dabei doch von Riesen und Recken die größten Lügen mit an, die ich je gehört. Und weil sie diese Wunder nicht gesehen haben, so wollen sie diese nicht glauben. Was soll ich mit solchen? Ich schreibe, was ich weiß, für wen ich will, und für den, dem es gefällt.
– Konrad von Megenberg, 1347

Nackt sitzt sie da, als warte sie schon eine Ewigkeit und würde noch ewig so warten, den jungen Busen sanft gespannt. Nichts kann sie stören. Nicht die Scharen von Schaulustigen, die Busladungen voller Touristen, nicht die Liebenden im Abendlicht, nicht die Möwen, die kreischend hier am Meeressundstrand jagen. Nicht einmal der Abgrund, das grausige Loch zwischen ihren bronzenen Schultern, dort, wo gestern noch der Kopf auf dem Hals saß, und die Haare sich wellten. Alle sind empört. Doch die Kleine Meerjungfrau scheint gelassen zu sagen: Wieso? Ich bin doch nicht von dieser Welt. Das Attentat rührt sie kein bisschen.

Bilder von ihr gingen am Mittwoch, den 7. Januar 1998, um die Welt. Die Kleine Meerjungfrau, das Wahrzeichen von Kopenhagen, ja vielleicht sogar von ganz Dänemark, war enthauptet. Am nächsten Tag meldeten die Agenturen, die „Radikal-feministische Fraktion“ habe sich zu dem Anschlag bekannt.

„Wir haben den Kopf der Kleinen Meerjungfrau abgesägt, als Symbol für Frauenfeindlichkeit und obsessiv-sexuelle Männerträume, in denen Frauen lediglich Körper ohne Köpfe sind“, schrieben sie in ihrem Bekennerbrief. Die Meerjungfrau kann auch das nicht erschüttern. Natürlich ist sie Projektionsfläche. Sie träumt weiter, und wer sie sieht, träumt auch – manche vielleicht von einem Mädchen, das sie erniedrigen, beherrschen und missbrauchen, andere von zartem Verlangen oder wildem Begehren, alle aber irgendwie von einem fernen, phantastischen Reich dort draußen im Meer, wo die Fesseln dieser Ordnung nicht gelten. Die doppelte Gestalt aus Frau und Fisch, aus dem Vertrauten und dem Fremden, dem Eigenen und dem Anderen, lockt die Phantasie über die Grenze des Vertrauten hinaus. Seit Jahrtausenden sind Menschen ihr dorthin gefolgt. Von der enthaupteten Schönen am Øresundstrand führt deren Spur zurück durch die Zeiten.

Am Anfang war der Mythos. Er berichtet, nennt, sagt den Ursprung. Hier stieg die erste Frau aus dem Meer. Aphrodite vielleicht? Kronos, der jüngste der Titanen nämlich, hatte das Gemächt seines Vaters Uranos abgeschnitten und ins Meer geschleudert. Schaum sammelte sich darum, und daraus wuchs die Göttin Aphrodite hervor. Sie trug einen magischen Gürtel, der jeden, der sie anblickte, mit Liebe zu ihr erfüllte. Viele schmolzen dahin, sogar Zeus war versucht. Aphrodite hielt sich dabei nicht an Grenzen. Sie pflegte Affären mit Menschenmännern und ließ Götter sich nach Sterblichen verzehren. Sie betonte die Lust. Die Ehe fürs Leben war ihr weniger wichtig. So mancher kam nicht damit klar.

Oder die fischschwänzige Skylla? Sie entzog sich mit anderen Methoden der Konvention. Sie wollte von Liebhabern nichts wissen, sondern genoss das Spiel mit den Nymphen. Trotzdem verliebte sich Glaukos in sie. Kirke, die diesen Meergott selbst gern gehabt hätte, geriet darüber in schrecklichen Zorn. Sie verzauberte Skylla in ein Ungeheuer mit vielen Mäulern, das bei den Strudeln an der Straße von Messina lauert, um Männer in großer Zahl zu verschlingen. Schließlich wird Skylla zu einem Felsen.

Ganz in der Nähe, ebenfalls an der Straße von Messina, hausten die Sirenen. Sie sangen so lieblich daher, dass Schiffer davon betört waren und ihnen ewig lauschten – so lange, bis sie zu Grunde gingen. Der Felsen, auf dem die Sirenen hausten, war weiß von den bleichen Gebeinen. Als nun Odysseus, der Listenreiche, dort vorbeikam, war er gewarnt. „Welcher mit törichtem Herzen hinabfährt und der Sirenen Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen; denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen.“ Klassisch trägt die Sirene Vogelgewand. Später wächst ihr ein schuppiger Schwanz.

Keine der drei Geschichten aus der antiken griechischen Mythologie passt in das Schema „Körper ohne Kopf“. Vielmehr sind Aktiv und Passiv hier zugunsten der Frauen verteilt. Sie handeln, sie singen, sie locken, wie es ihnen gefällt. Und sie verschlingen. Wer sich hingibt, muß seinen sicheren Kurs verlassen und steuert dem Abgrund zu. Die Lust und der Tod liegen dicht beieinander. Auch umgekehrt lassen sich zumindest Skylla und die Sirenen erklären: Wo in der Straße von Messina die Schiffe im Sturm zerschellten, muss Lust im Spiel gewesen sein, sonst wäre das Schicksal der Seeleute gar zu grausig erschienen. Denn die Felsen waren bleich von Gebeinen.

Die Bibel kennt keine Meerjungfrau. Wohl aber die Kirche. Sie übernimmt Sirenen und andere Wesen, aber unterschlägt die Erzählungen, die sich um diese Wesen ranken. Im Mittelalter lässt sie geflügelte, geschuppte, mit einem Horn oder tausend Köpfen versehene Ungeheuer immer wieder beschreiben und malen. Sie gelten – wie auch Berichte über allerlei Wunder – als Zeugnis der Schöpfermacht Gottes, die alle natürlichen Grenzen übersteigt. Da die Tiere des Landes schon weitgehend bekannt sind, wird das Meer zum beliebten Aufenthaltsort von phantastischen Geschöpfen. Wissenschaftler untermauern, was die Kirche lehrt, denn sie stehen in deren Diensten. Sie tun das mit gutem Gewissen, denn sie können sich auf Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) berufen, der Sirenen als Frauen mit Fischschwanz erklärt, und auch auf Plinius (23–79 n. Chr.) und seine „Naturalis historia“. In der ersten deutschsprachigen Naturgeschichte, dem „Buch der Natur“ (1347), präzisiert Konrad von Megenberg die antike Beschreibung: „Sirenen sind merwunder gar wol gestimmet, sam Aristoteles spricht, die mögend ze deutsch merweip haizen, wan sie habent oben von dem haupt unz an den nabel ainz frawen gestalt. ... Daz nider tail an dem tier ist als das nider tail ains adlarn, sam Adelinus spricht, und hat daz tier gar scharpf kraeuln an den füezen, da mit ez reizt waz ez begreift, und hat ze letzt ainen swanz met schepeln als ain visch, mit dem swimt es in den wazzern.“

Eins der Wunderwesen trägt den Namen Melusine. Erst spukt sie durch altfranzösische Sagen, dann schreibt 1456 Thüring von Ringoltingen einen Roman über sie – einen der ersten deutschen Prosa-Romane überhaupt. Er erzählt, wie die schöne Melusine im Wald an einem Brunnen sitzt, als Reymundt vorbeikommt. Er verliebt sich, und sie heiraten, aber er muss ihr versprechen, sie niemals samstags aufzusuchen oder ihr Tun zu erkunden. Doch Reymundt spioniert Melusine nach. „Er sahe durch das Loch hineyn und sahe, daß sein Weib im Bade nacket saß; sie war oberhalb dem Nabel ein schön weiblich Bild und von Leib und Angesicht ganz schön, aber von dem Nabel hinab war sie ein großer langer und ungeheurer Wurmschwantz als blaw Lasur und mit weißer Silberfarben tröpfflich untereinander gesprengt als denn ein schlang gemeinlich gestallt ist.“ Die Melusine gerät über die Spioniererei dermaßen in Zorn, dass sie ganz zur Schlange wird, durch das Fenster hinausfliegt und Reymundt, dessen Burg und Geschlecht vernichtet.

Verdichtet könnte die Geschichte so gehen: Es ist die Zeit der Inquisition. Das geheime Wissen der Frauen ist bedroht. Melusine kann ihre „andere“ Natur schon nur noch in einer Nische zeigen. Sie kämpft – und sie hat Glück. Die Macht ist noch zu ihren Gunsten verteilt. Melusine entkommt.

Unerwartet taucht sie rund 500 Jahre später wieder auf: Im Büro des Direktors vom VEB Zentralzirkus in den „Leben und Abenteuern der Trobadora Beatriz“ von Irmtraud Morgner (1974). Da sprang die Klappe zum Lüftungsschacht auf. Der Direktor erschrak. Seltsame Klagelaute waren zu hören. Dann der Satz: „Die Menschen glauben große Wahrheiten eher in unwahrscheinlichen Gewändern.“ Beatriz traute ihren Ohren nicht. Spürte aber bereits jene seltsame Erregung, die ihr bei dichterischen Einfällen, jähen Entschlüssen und verwandten produktiven Zuständen voranzugehen pflegte. Schließlich fasste sie sich und rief: „Bist du es, bist du’s endlich – frei, ich werd’ verrückt.“ – „Mit wem reden Sie“, fragte der Direktor nicht nur verblüfft. „Mit meiner Schwägerin Marie von Lusignan.“ Die Luftklappe schepperte, flog sperrangelweit auf, Staub wölkte: Durch den Luftschacht des Verwaltungsgebäudes vom VEB Zentralzirkus fuhr fürwahr die schöne Melusine. In Sphinxgestalt: halb Drache, halb Weib. Beatriz feierte das Wiedersehen mit der Schwägerin, indem sie die obere, weibliche Hälfte stürmisch umarmte und küsste.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Cornelia Gerlach und Conny Bangert

Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Reisereportagen und Portraits. In mare No. 4 veröffentlichte die begeisterte Seglerin einen Artikel über Frauen, die sich als Matrosen verkleiden.

Conny Bangert, Jahrgang 1958, studierte an der FH Bielefeld Illustration. Seit 1985 lebt und arbeitet sie als Illustratorin in Berlin. Schon seit dem ersten Heft illustriert sie für mare.

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Vita Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Reisereportagen und Portraits. In mare No. 4 veröffentlichte die begeisterte Seglerin einen Artikel über Frauen, die sich als Matrosen verkleiden.

Conny Bangert, Jahrgang 1958, studierte an der FH Bielefeld Illustration. Seit 1985 lebt und arbeitet sie als Illustratorin in Berlin. Schon seit dem ersten Heft illustriert sie für mare.
Person Von Cornelia Gerlach und Conny Bangert
Vita Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Reisereportagen und Portraits. In mare No. 4 veröffentlichte die begeisterte Seglerin einen Artikel über Frauen, die sich als Matrosen verkleiden.

Conny Bangert, Jahrgang 1958, studierte an der FH Bielefeld Illustration. Seit 1985 lebt und arbeitet sie als Illustratorin in Berlin. Schon seit dem ersten Heft illustriert sie für mare.
Person Von Cornelia Gerlach und Conny Bangert