Leben im Meer II: Raumstationen im Weltinneren

Vor 50 Jahren begann die Wissenschaft, das All zu erobern – und zugleich die Welten unter Wasser. Die Pioniere erdachten ganze Siedlungen auf dem Meeresgrund

Fische haben sich längst an den seltsamen Anblick gewöhnt. Wie ein ins Wasser geplumpster Güterwaggon sitzt die „Aquarius“ auf dem Meeresgrund. Entenmuscheln haben sich auf ihrer Stahlhaut niedergelassen. Krebse huschen in der Deckung der vier stämmigen Beine, mit denen die „Aquarius“ aus dem Sand ragt. Abends strahlt das Licht ihrer Bullaugen in die stille Tinte des Atlantiks.

Drinnen ist es eng, aber funktionell. Die „Aquarius“ ist ein Unterwasserhabitat, ein Zufluchtsort fast 20 Meter tief im Meer. Taucher schlüpfen hinein, indem sie an der Unterseite zu einer viereckigen Öffnung schwimmen und eine Treppe hochsteigen – wie ein umgestülptes Glas in der Badewanne hält die „Aquarius“ Luft im Inneren, obwohl sie keine Tür besitzt. In ihrem winzigen Vorraum können Besucher zunächst die Tauchanzüge abstreifen, sich unter einer Dusche das Salzwasser abspülen und trockene Kleider anlegen. Wenige Schritte sind es zur Hauptkabine, einer Kombination aus Wohn- und Arbeitsraum, ausgestattet mit einer Mikrowelle, Kühlschrank, Spülbecken, Telefon, Internet und einem Tisch. Hinter einer Abtrennung sind mehrere Schlafkojen übereinander angebracht. 14 Meter misst die „Aquarius“ in der Länge, drei in der Breite. Sechs Menschen können hier wohnen.

Und tun es auch. Seit 16 Jahren liegt die „Aquarius“ im Florida Keys National Marine Sanctuary, gut 14 Kilometer südöstlich von Key Largo. Meeresbiologen kommen hierher, um Korallen zu studieren. Gewöhnlich bleiben sie zehn Tage in dem 85 Tonnen schweren Unterwasserlabor. Arbeiten, schlafen, essen, telefonieren, schreiben E-Mails, halten Videokonferenzen – ohne ein einziges Mal an die Oberfläche zu kommen. Viele erfüllt dabei ein einzigartiges Hochgefühl. Zum Teil liegt das an dem Gemisch aus Stickstoff und Sauerstoff, das von der Oberfläche in die Kabine gepumpt wird. Das Atemgas macht ein bisschen high. „Als hätte man gerade ein Glas Wein gekippt“, beschrieb es einmal Gregory Stone, ein Biologe des New England Aquarium in Boston.

Doch vor allem hat die Euphorie damit zu tun, dass die alternde „Aquarius“ derzeit die vorläufig letzte Überlebende einer einst grandiosen Vision ist.

Mitte des 20. Jahrhunderts träumten die Menschen nicht nur davon, das All zu erobern, sondern auch den Raum unter Wasser. Ein Jahr bevor der Russe Juri Gagarin als Erster die Erde umrundete, steuerte der Franzose Jacques Piccard ein U-Boot fast elf Kilometer hinab in den Marianengraben, den tiefsten Punkt der Ozeane. Ein beherzter Schritt in eine Welt, die unermessliche Reichtümer zu bieten schien. Die Spekulationen reichten vom unterseeischen Mineralienabbau zu Unterwasserschifffahrtsrouten und submarinen Kernkraftwerken. „Nicht nur aus Neugier sollten wir die Ozeane erforschen“, sagte US-Präsident John F. Kennedy, „unser Überleben könnte davon abhängen.“

Freilich kann ein Mensch selbst mit ausreichend Luft nicht problemlos in die Tiefe vorstoßen. Mit jedem Meter, den er sinkt, lasten gut eineinhalb Tonnen zusätzlicher Druck auf seinem Körper. Dadurch dringen mehr Gase (wie Stickstoff) ins Blut. Kehrt der Taucher abrupt an die Oberfläche zurück, lassen sie das Blut sprudeln wie Kohlensäure in einer Mineralwasserflasche. Die Blasen können tödliche Embolien auslösen. Bei einem Taucher, der 20 Meter unter der Oberfläche schwimmt – die Tiefe von „Aquarius“ –, erreicht die Gasmenge in seinem Blut bereits nach 80 Minuten bedenkliche Konzentrationen. Bleibt er länger, muss er beim Auftauchen Pausen einlegen, um zu „dekomprimieren“, seinem Körper Gelegenheit geben, über¬schüssiges Gas abzubauen. Je mehr Zeit er in der Tiefe verbringt, desto mehr Stickstoff löst sich im Blut und desto langwieriger gestaltet sich die Rückkehr. Irgendwann jedoch hat der Körper alle Gase aufgenommen, die dem lokalen Druck entsprechen – er ist „gesättigt“. Ab dann bleibt die Dekompressionszeit immer gleich. Der Taucher kann nun ohne zusätzliches Opfer so lange in der Tiefe bleiben, wie er will.

Basierend auf dieser Erkenntnis erträumten sich Visionäre Siedlungen von Unterwasserhabitaten, deren Bewohner nur alle paar Wochen oder Monate an die Oberfläche kommen würden. Dank dieser „Raumstationen im Weltinneren“, wie man sie nannte, würde der Mensch die Meeresböden kolonisieren. „Schon morgen“, prophezeite der belgische Taucher Robert Stenuit in den sechziger Jahren, „wird ein Siedler seinen Grund und Boden durch die Bullaugen seiner Unterwasserranch überblicken.“

Stenuit selbst machte den Anfang. Am 7. September 1962 wurde er zum ersten Aquanauten der Geschichte, indem er 26 Stunden in einer vier Meter langen Aluminiumröhre 60 Meter tief im Mittelmeer baumelte. Die Ersten jedoch, die einigermaßen dauerhaft unter Wasser lebten, waren die Franzosen Albert Falco und Claude Wesly. Unter dem Kommando des legendären Meeresforschers Jacques-Yves Cousteau zogen sie am 14. September 1962 für eine Woche in einen fünf Meter langen und 2,5 Meter hohen Stahlzylinder namens „Conshelf I“, der bei Marseille zehn Meter tief auf dem Meeresgrund verankert wurde. Pressluftschläuche, die mit einer Landstation verbunden waren, versorgten die Tonne mit Luft. Infrarotlicht wärmte die Aquanauten, Schaumgummi an den Wänden hielt das Habitat trocken, ein Plattenspieler bot Unterhaltung.


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mare No. 66

No. 66Februar / März 2008

Von Ute Eberle

Ute Eberle, Jahrgang 1972, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin im niederländischen Leiden.

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Vita Ute Eberle, Jahrgang 1972, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin im niederländischen Leiden.
Person Von Ute Eberle
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