Leben im Meer I: Visionen der Wirklichkeit

Seit Jules Verne träumen die Menschen vom Wohnen unter Wasser. Es bleibt zumeist beim Traum. Ein französischer Architekt dagegen schafft Fakten statt Fiktionen

Unterwasserfahrzeuge, die mehr wären als banale U-Boote, raumschiffgleiche Trainingszentren für Astronauten, ja selbst Hotels und Wohnanlagen auf dem Grund des Meeres: Ist der Franzose Jacques Rougerie womöglich ein moderner Kapitän Nemo? Zumindest hat er nichts dagegen, in der Medienlandschaft oberhalb des Wasserspiegels als solcher zu gelten. Kein Artikel in „National Geographic“, „Spiegel“ oder „Le Monde“, der das 1945 geborene Enfant terrible der französischen Gegenwartsarchitektur nicht in Beziehung zu Jules Vernes „Nautilus“-Helden setzen würde.

Passend zur diskret gestrickten Legende: Monsieur residiert nicht etwa in einer Villa mit Meerblick, sondern wohnt und zeichnet auf einem Hausboot, pittoresk am Pariser Seineufer vertäut. Doch wer ist der groß gewachsene, charismatische Mann mit der jugendlichen, wenn auch bereits ergrauten Mähne wirklich?

Der Architekt, der nun mit dem „Sea Orbiter“ die Ozeanografie revolutionieren will, ist wohl vor allem der personifizierte Beweis einer gelungenen Symbiose: Visionskraft und gesunder Realismus müssen sich nicht ausschließen. Ein menschenscheuer, ja misanthropischer Nemo ist damit Rougerie gewiss nicht. Anderenfalls hätte er auch wohl kaum mit den öldollarschweren Scheichs von Abu Dhabi verhandeln können, um vor der Küste der Emirate eine submarine Luxussiedlung nach dem Vorbild amerikanischer gated communities zu bauen.

Wer derlei architektonische Träume global anbietet, darf nicht nur Träumer sein. Er muss stattdessen eine profunde Baumeisterausbildung hinter sich haben (Rougerie studierte in den siebziger Jahren in Frankreich und Japan), und er sollte vor allem Antworten bereithalten auf die wirklich wichtigen Fragen jenseits poetischer Utopien: Welches Material, druckfest und nicht rostend, ist für derlei Bauvorhaben zu verwenden, da Backstein und Zement schon einmal ausfallen? Welche Verdichtungen und Verankerungen sind auf dem Meeresgrund nötig und möglich? Und inwieweit ist Acrylglas – ein wenig anders, als den Reportern in den Block diktiert – nicht hauptsächlich Beweis für eine neue, menschenfreundliche und selbstverständlich ökologische maritime Ästhetik „ganzheitlicher Transparenz“, sondern schlichte Notwendigkeit, da das runde Glas nun einmal Druck am besten standhält?

Wer Jules Vernes Roman wirklich gelesen hat, anstatt nur mit der Chiffre „Nemo“ herumzuwirbeln, wird sich vor allem an eine spannende Geschichte erinnern, deren wissenschaftliche Patzer allerdings noch jeden Unterwassersponsor sofort in die Flucht geschlagen hätten. So erzählt Kapitän Nemo etwa seinem Besucher Aronnax, dass er das berühmte Denayrouze-Rouquayrol-System revolutioniert habe, indem er seine Taucher mit einem Kupferhelm ausstattete, der dem hohen Wasserdruck widersteht. Wenn der Druck auf den Kopf jedoch geringer ist als jener auf den restlichen Körper, strömt das Blut nur um so schneller in den Kopf und verursacht tödliche Blutungen … Au revoir, Monsieur Nemo!

Jacques Rougerie, immerhin seit nunmehr drei Jahrzehnten im Geschäft, sind derlei Unstimmigkeiten nie unterlaufen. Im Gegenteil – seine mitunter Science-Fiction-artig anmutenden Zukunftsvisionen ziehen ihre Glaubwürdigkeit aus gemeisterter Gegenwart, will heißen aus unzähligen Projekten, die Rougerie bereits in die Praxis hatte überführen können. So realisierte er neben vielem anderen 1977 mit gerade einmal 32 Jahren die halb mobile Unterwasserbehausung „Galathée“, die immerhin sieben Bewohnern an Bord halbwegs komfortabel Raum bot – in bis zu 45 Meter Tiefe. Seine „Aquabulles“ genannten Beobachtungskapseln wurden von 1976 bis ins Jahr 2000 sogar in Serie gebaut, des Weiteren die ozeanischen Trimarane „Aquaspaces“, die Frankreich von 1982 bis 2006 produzierte – beides innovative Hilfsmittel der Meeresforschung, die nun nach des Meisters Willen ihre Krönung im „Sea Orbiter“ finden sollen.

Geplant als „Synthese all meiner Arbeiten“, ist Jacques Rougerie freilich Realist genug, um sich für dieses Projekt nicht etwa in romantischer Manier selbst hoch zu verschulden, sondern kühl einen Kostenvoranschlag zu machen: 25 Millionen Euro soll die Fertigung der senkrecht über und unter Wasser im Rhythmus der Ozeanströmung dahingleitenden Forschungsstation kosten. Noch aber ist diese Summe nicht aufge¬trieben – trotz der Unterstützung solch renommierter Institutionen wie dem Pariser Ozeanografischen Institut, dem norwegischen Marineforschungsinstitut Marintek und dem Tiefseeforschungsprogramm der Nasa, das den leicht verballhornenden Namen „Neemo“ trägt.

Obwohl damit „Sea Orbiter“ nicht wie geplant noch in diesem Jahr wird in See stechen können, um im Golfstrom zu gleiten, ist das keineswegs zweckfreie Projekt ausgefeilt und antwortet auf die Bedürfnisse der modernen Meeresbiologie. Forscher gehen nämlich davon aus, dass unter Wasser noch weit mehr Arten und Lebewesen existieren, als bislang angenommen wird. Mit zeitlich begrenzten Tauchgängen und limitiertem Sauerstoffvorrat lässt sich jedoch ebenso wenig entdecken wie mit traditionellen Forschungs-U-Booten, deren Motorgeräusche zum Beispiel die Tiere eher vertreiben als anlocken.


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mare No. 66

No. 66Februar / März 2008

Von Marko Martin

Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller und freier Publizist in Berlin. Meeres- und vor allem Jules-Verne-Fan seit Kindheitstagen, gesteht er, die technische Detailhuberei in dessen Romanen stets ungleich weniger interessant gefunden zu haben als die Psychologie ihrer Helden, Antihelden, Protagonisten und Freaks.

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Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller und freier Publizist in Berlin. Meeres- und vor allem Jules-Verne-Fan seit Kindheitstagen, gesteht er, die technische Detailhuberei in dessen Romanen stets ungleich weniger interessant gefunden zu haben als die Psychologie ihrer Helden, Antihelden, Protagonisten und Freaks.
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Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller und freier Publizist in Berlin. Meeres- und vor allem Jules-Verne-Fan seit Kindheitstagen, gesteht er, die technische Detailhuberei in dessen Romanen stets ungleich weniger interessant gefunden zu haben als die Psychologie ihrer Helden, Antihelden, Protagonisten und Freaks.
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