Katastrophe in der Tiefe

Fahrten in Atom-U-Booten waren schon oft ein Himmelfahrtskommando. 1968 verschwand die US-amerikanische „Scorpion“ mitten im Atlantik

Werft der Electric Boat Division von General Dynamics, Groton im US-Bundesstaat Connecticut, 29. Dezember 1959. Das Atom-U-Boot liegt im Trockendock wie ein gestrandeter Pottwal, dunkelgrau, groß und bedrohlich selbst außerhalb seines Elements. Die SSN 589 USS „Scorpion“ ist das zweite Schiff einer sechs Einheiten umfassenden Klasse von neuen, atomgetriebenen und mit Nuklearwaffen bestückten „Killer-U-Booten“, deren Hauptzweck die Vernichtung gegnerischer U-Boote ist. Nicht nur die US Navy ist von ihrem neuesten Stück begeistert, sondern auch eine Gruppe von Pfadfindern.

Die „Boy Scouts“ stehen an diesem Wintertag frierend am Kai, denn der Stapellauf eines Atom-U-Bootes ist keine Geheimveranstaltung, sondern im Gegenteil ein von der Marine kunstvoll inszeniertes gesellschaftliches Ereignis. Eine Militärkapelle spielt, dann lässt Mrs. Elizabeth S. Morrison die obligatorische Champagnerflasche am Rumpf zerschellen. Der ist aus hochfestem HY-80-Stahl, ausgelegt, um auch noch dem Druck von 700 Tonnen Wasser pro Quadratmeter zu widerstehen, sodass die Flasche zerspringt, als wäre sie gegen einen Granitfelsen geschleudert worden. Dann gleitet der Koloss rauschend ins Wasser.

Die Augen von Robert Violetti leuchten vor Begeisterung. Der Rumpf der „Scorpion“ ähnelt einem Riesentorpedo: 76,7 Meter Länge, dabei aber nur rund neuneinhalb Meter breit und maximal knapp neun Meter hoch! Mit einem 15000 PS starken S5W-Atomreaktor, der das U-Boot theoretisch zwei Jahre oder rund 111000 Kilometer – mehr als das Zweieinhalbfache des Erdumfangs! – mit 65 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit durch das Meer treiben kann! Bewaffnet mit zwei nuklearen und 21 konventionellen Torpedos! Die maximale Tauchtiefe ist geheim, soll bei rund 700 Metern liegen!

94 Mann Besatzung, angetreten in weißen Paradeuniformen! „Zu denen“, beschließt der gerade elfjährige Pfadfinder Robert Violetti, „will ich auch einmal gehören!“

Siebeneinhalb Jahre später, 1967, hat sich die Vision des kleinen Pfadfinders tatsächlich erfüllt: Violetti wird Torpedospezialist auf der „Scorpion“, einer der jüngsten Männer an Bord. Er ahnt nicht, dass das Schiff seines Kindertraums sein Sarg werden wird.

Norfolk Naval Base, Submarine-Pier 22, 15. Februar 1968. Die winterliche Nachmittagssonne steht tief am Himmel, auf den Wellen der Chesapeake Bay blitzen Lichtreflexe, als sich die „Scorpion“ langsam vom Pier löst. Der tropfenförmige Bug schiebt eine weiß schäumende Welle hoch. Auf dem Deck stehen noch einige Matrosen, an den Füßen speziell entwickelte Haftschuhe, damit sie nicht vom glatten, nur wenige Handbreit über den Meeresspiegel aufragenden Rumpf rutschen. Der Turm wirkt so schmal wie eine Messerklinge.

Oben drängen sich Kapitän Francis Atwood Slattery und zwei, drei weitere Offiziere in einem winzigen Verschlag und dirigieren das Ablegemanöver. Auf älteren U-Booten war der Turm noch eine richtige, begehbare Abteilung, eine Art Brücke für ein Unterwasserschiff, doch auf der „Scorpion“ dient der zahnförmige Stahlschacht nur noch als unbequemer Ausguck für die wenigen notwendigen Überwassermanöver sowie als Angelpunkt der vorderen, wie Stummelflügel geformten Tiefenruder und zum Schutz der diversen Periskope und Antennen.

Am Pier 22 warten ein paar Angehörige und winken. Auch ein fünfundzwanzigjähriger Seemann steht am Kai und löst die letzte, weiße Trosse, die die „Scorpion“ noch mit dem Land verbunden hat – eine Abschiedsgeste. Der Elektriker Dan Rogers hatte auf einem nukleargetriebenen Überwasserschiff der Navy gedient und sich dann voller Enthusiasmus zu den U-Booten gemeldet. Er wurde am 29. Januar 1967 zur „Scorpion“ versetzt. Doch genau elf Monate später war er so verzweifelt, dass er lieber seine Karriere riskierte, als weiter auf diesem Schiff zu dienen. Er schrieb einen Brief an den Commander der Submarine Squadron 6, zu der die „Scorpion“ gehört, und bat um seine Versetzung. Ein Offizier wollte ihn zum Bleiben überreden: „Die nächste Fahrt geht ins Mittelmeer! Sonne! Exotische Häfen!“ Vergeblich.

An diesem Morgen verabschiedet er sich von seinen alten Kameraden. Er ist einer der wenigen, vielleicht der einzige der Zurückbleibenden am Pier, der den zynischen Spitznamen kennt, den die Besatzung ihrem Atom-U-Boot verliehen hat: „USS ,Scrap-iron‘“ – „Eisenschrott“.

Ein modernes Atom-U-Boot ist eine hoch gefährliche, aber auch eine äußerst sensible und extrem teure Waffe. Durchschnittlich 40 Prozent ihrer Zeit verbringen Amerikas stählerne Wale nicht tief unter den Wellen, sondern auf der Werft. Es dauert schon Wochen und kostet über zwei Millionen Dollar, die Brennstäbe des Reaktors zu wechseln. Der Rumpf und Hunderte Meter verschlungener Leitungen, durch die Druckluft oder Wasser gepumpt werden, müssen Millimeter für Millimeter mit Lupe, Ultraschall oder transportablen Röntgengeräten auf mikrofeine Risse und Ermüdungsstellen untersucht werden. Schließen alle Luken noch dicht? Funktioniert die aus Tausenden von Einzelteilen bestehende Bordelektronik einwandfrei? Stehen neue Seekarten, neue Karten des Bodenreliefs unter den Ozeanen zur Verfügung? Dazu müssen für monatelange Tauchfahrten Vorräte an Bord gebracht werden, außerdem vielleicht auch neue Torpedos.

Dabei hat ein Atom-U-Boot nur zwei oder drei Luken, durch die das Innere zugänglich ist. Zur normalen Besatzung kommen nun militärische Spezialisten und zivile Werftarbeiter, die sich im klaustrophobisch engen, stählernen Bauch drängen. Dann stehen kurze Testfahrten an, penible Checks aller Einzelteile unter Tauchbedingungen – denen unweigerlich eine mehr oder weniger lange Mängelliste folgt, die wiederum zu Werftaufenthalten zwingt, die wiederum von Tests überprüft werden, die wiederum... Nicht selten liegt ein Atom-U-Boot deshalb eineinhalb oder zwei Jahre im Dock.

Außerdem ist die US Navy vorsichtiger geworden, seit 1963 das Atom-U-Boot „Thresher“ wegen schwerer Konstruktionsmängel mit 129 Mann an Bord in der Tiefsee zermalmt wurde. Ein ganzes Bündel neuer Sicherheitssysteme soll danach in alle amerikanischen U-Boote eingebaut werden. „Subsafe“ nennt sich das Programm.

Doch diese Nachrüstung ist enorm teuer, verschlingt von 1963 bis 1968 rund 500 Millionen Dollar – die Baukosten eines riesigen Flugzeugträgers. Außerdem fehlt es den Werften an allen Ecken und Enden an der notwendigen Menge extrem widerstandsfähiger Materialien, an Spezialisten, an Trockendocks. Das ganze Wartungs- und Neubauprogramm der Navy droht ins Stocken zu geraten.


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mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Cay Rademacher

Cay Rademacher, 1965 geboren, ist Historiker und Journalist in Hamburg. In einer Sonderbeilage zu mare No. 5 erschien seine historische Reportage über die letzte Fahrt der „Morro Castle“. In mare No. 10 schrieb er über die Tauchfahrt der „Trieste“ an den tiefsten Punkt der Erde.

Über Unglücke mit Atom-U-Booten berichtete Gerd Rosenkranz in mare No. 5.

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Vita Cay Rademacher, 1965 geboren, ist Historiker und Journalist in Hamburg. In einer Sonderbeilage zu mare No. 5 erschien seine historische Reportage über die letzte Fahrt der „Morro Castle“. In mare No. 10 schrieb er über die Tauchfahrt der „Trieste“ an den tiefsten Punkt der Erde.

Über Unglücke mit Atom-U-Booten berichtete Gerd Rosenkranz in mare No. 5.
Person Von Cay Rademacher
Vita Cay Rademacher, 1965 geboren, ist Historiker und Journalist in Hamburg. In einer Sonderbeilage zu mare No. 5 erschien seine historische Reportage über die letzte Fahrt der „Morro Castle“. In mare No. 10 schrieb er über die Tauchfahrt der „Trieste“ an den tiefsten Punkt der Erde.

Über Unglücke mit Atom-U-Booten berichtete Gerd Rosenkranz in mare No. 5.
Person Von Cay Rademacher