Grosse Töne, leise Hoffnung, stiller Traum

Hunderttausende Kinder lernen im „Sistema“, Venezuelas staatlicher Organisation zur Förderung musikalischer Erziehung, ein Instrument zu spielen. Auch die Fischerkinder in Punta de Piedras, einem ent­legenen Dorf auf der Karibikinsel Margarita

Irgendwann waren die Kinder verschwunden. Der lange Holzsteg, auf dem sie immer spielten, war verwaist, die Straßen leer. Nur wenige waren geblieben, im Hafen, in den Häusern, in den schattigen Ecken des Fischerdorfs Punta de Piedras auf der venezolanischen Karibikinsel Margarita. Die anderen waren der Melodie gefolgt. Vorbei an den Flachbauten der Fischersiedlung und dem rostzerfressenen Seelenverkäufer im Hafenbecken, den Zeit und Salzwasser geknickt hatten wie einen Strohhalm. Es war eine neue Melodie, kein nervöser Merengue, kein lasziver Salsa, kein pumpender Reggaeton. Es war etwas Leises, Feines. Jenseits des steinernen Tores, wo die türkisblaue Lagune durch die Büsche schimmert, wussten sie, dass es nicht mehr weit war: Die Melodie war zu einem mächtigen Getöse angeschwollen.

Mitten im Klanggewitter sitzt ein zarter Junge mit großen dunklen Augen und abstehenden Ohren, er umklammert eine Geige. Als er sie ansetzen will, schnappt sich eine große Hand das Instrument und spielt ein paar Takte. Sie gehört Orlando Benítez, dem Musiklehrer und Dirigenten. „Die ist aber verstimmt, Gabriel!“- Gabriel schaut ihn an und nickt heftig, dann rennt er davon und kommt mit einem Notenständer in der Hand wieder. Immer mehr Kinder wuseln jetzt in der kahlen Eingangshalle des Instituts für Meereskunde herum, rollen Pauken durch die Gegend, schleppen Stühle, polieren Trompeten und Celli. Dazwischen flirren Fetzen des vierten Satzes von Beethovens neunter Sinfonie, der Ode „An die Freude“, in mindestens drei Tonarten.

Als Orlando das Wort ergreift und es im Raum langsam stiller wird, fängt Gabriel an zu zappeln. Er ist sechs Jahre alt, sein Schultag war lang, und in den kommenden zweieinhalb Stunden wird er hier sitzen und proben, wie jeden Tag. Hinter ihm schnattern die beiden Klarinettistinnen des Orchesters. Eine von ihnen ist Alexandra. Sie nestelt an ihren langen schwarzen Haaren und lächelt verlegen, als Orlando zur Ruhe mahnt und das Orchester wacklig die ersten Takte spielt. Sich zu konzentrieren fällt schwer. Vom Meer zieht ein leichter Windhauch in die Halle, aber die Luft hängt wie ein feuchter Hefeteig über der Stadt. Die Regenzeit hat gerade begonnen.

Alexandra und Gabriel sind zwei von mehr als 300 000 Kindern, die in Venezuela ein Instrument im Orchester erlernen. Überall im Land, im Dschungel, in den Tiefebenen, an den Küsten, gibt es Musikschulen, „núcleos“, Zellkerne, genannt. Ins Leben gerufen von einer staatlichen Stiftung, die sich die systematische Verbreitung musikalischer Kenntnisse in den Namen geschrieben hat: die „Fundación del Estado para el Sistema Nacional de las Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela“, kurz: El Sistema. Sie bietet Musikunterricht für Kinder, deren Eltern es sich kaum leisten könnten, eine Blockflöte zu kaufen. Die Núcleos sind Spielplätze und Talentschmieden, vor allem aber sollen die Heranwachsenden dort lernen, was nur wenige von ihnen kennen: Verantwortung und Selbstvertrauen. Sie bekommen dort nicht nur die Lust an der Musik vermittelt, sondern auch, dass sie ihre Zukunft selbst in der Hand haben. Von Leuten wie Ecberth Lucena.

Dass das kleine Punta de Piedras seit zwei Jahren einen Núcleo besitzt, ist ihm zu verdanken. Der stämmige Venezolaner mit der Adlernase ist Dirigent des Inselorchesters Nueva Esparta, in dem die besten Talente der Isla Margarita spielen. Ecberth hat Musik studiert, ist in der Welt herumgekommen und beendet jeden zweiten Satz mit einem breit gezogenen „Jeeesus!“, einem Überbleibsel aus seiner Studienzeit in den USA. Sein Blackberry surrt, während er von seinem neuesten Projekt erzählt. „150 Kinder, die hier auf einer Müllhalde leben und – Jeeesus! Die sollen alle in einem großen Chor singen!“, sagt er und liest gleichzeitig eine E-Mail von seiner Assistentin. Seit Tagen dreht sich alles nur noch um das Konzert, bei dem das erfahrene Inselorchester mit den Schülern aus Punta de Piedras zusammenspielen wird. Man könnte die Veranstaltung für ein nettes regionales Musikfest halten, doch es geht um mehr. Jedes Konzert ist Werbung für El Sistema, jeder Applaus von Eltern und Freunden macht die jungen Musiker stolz.

„Sie müssten mal sehen, wie das die Gemeinschaft hier verändert hat“, sagt Ecberth. „Wir spielen in Parks und am Strand, da sehen die Kinder die anderen Kinder und wollen auch Instrumente spielen. Sie sind Vorbilder!“ Einer seiner ehemaligen Schüler hat es nach Caracas ins Simón-Bolívar-Jugendorchester geschafft. „Wissen Sie, was er macht, wenn er Urlaub hat? Er kommt direkt vom Flughafen in den Núcleo und musiziert mit den Kindern. Erst dann geht er nach Hause. Jesus, ist das nicht groß-artig?“

Alexandra läuft die Zeit davon. Bis zum großen Konzert bleiben nur noch einige Tage, und die Ode „An die Freude“ sollte bis dahin ihrem Namen gerecht werden. Doch weder Alexandra noch ihre Freundin haben heute einen guten Tag. Die Töne quälen sich aus den Klarinetten. Gabriel kratzt sich mit dem Geigenbogen am Bein und grinst seine Schwester Isis an, die eine Reihe weiter ihre Querflöte putzt. Man sieht den meisten Kindern an, dass sie jetzt lieber ins Meer springen würden, auch wenn die Sonne bald untergehen und ein tropischer Regenguss folgen wird. Vor der Tür warten bereits einige Eltern, um ihre Kinder abzuholen. Gabriel rennt mit dem Geigenkoffer in der Hand auf seinen Vater Federico zu und wirft sich ihm in die Arme.


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mare No. 79

No. 79April / Mai 2010

Von Juliane Kaelberlah und Peter Dammann

Autorin Juliane Kaelberlah, Jahrgang 1985, war schnell klar, wie viel Kraft und Spielfreude in den jungen Musikern steckt, – als sie während einer Orchesterprobe zwischen den Posaunen und der Kesselpauke saß.

Für mare No. 4 fotografierte Peter Dammann, geboren 1950, russische Kadetten und gewann damit den World Press Photo Award. Die Arbeit des Sistema dokumentiert er schon seit einiger Zeit; 2009 erhielt er dafür den Medienpreis der Kindernothilfe.

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Vita Autorin Juliane Kaelberlah, Jahrgang 1985, war schnell klar, wie viel Kraft und Spielfreude in den jungen Musikern steckt, – als sie während einer Orchesterprobe zwischen den Posaunen und der Kesselpauke saß.

Für mare No. 4 fotografierte Peter Dammann, geboren 1950, russische Kadetten und gewann damit den World Press Photo Award. Die Arbeit des Sistema dokumentiert er schon seit einiger Zeit; 2009 erhielt er dafür den Medienpreis der Kindernothilfe.
Person Von Juliane Kaelberlah und Peter Dammann
Vita Autorin Juliane Kaelberlah, Jahrgang 1985, war schnell klar, wie viel Kraft und Spielfreude in den jungen Musikern steckt, – als sie während einer Orchesterprobe zwischen den Posaunen und der Kesselpauke saß.

Für mare No. 4 fotografierte Peter Dammann, geboren 1950, russische Kadetten und gewann damit den World Press Photo Award. Die Arbeit des Sistema dokumentiert er schon seit einiger Zeit; 2009 erhielt er dafür den Medienpreis der Kindernothilfe.
Person Von Juliane Kaelberlah und Peter Dammann