Gleitsegler mit Schuppen

Fliegende Fische dienten den Luftfahrtpionieren als Vorbild

Im Dezember des Jahres 1903 gelang den Brüdern Orville und Wilbur Wright eine ungeheure Sensation: Mit ihrem Fluggerät, einem Doppeldecker namens „Wright Flyer“, schwangen sie sich erstmals in die Lüfte. Was mit einem Hopser von 50 Metern begann, verbesserte sich beim vierten Anlauf schon auf einen Flug über 260 Meter.

Vorbild dieser tollkühnen Eroberung des Luftraums durch den Menschen waren nicht nur Vögel, sondern – kurioserweise – auch Meeresbewohner. Fische, die ihre nasse Heimat für Sekunden verlassen, um im weiten Bogen über die Wasseroberfläche zu sausen. Die Fliegenden Fische dienten den Konstrukteuren der ersten Stunde, zum Beispiel Otto Lilienthal und Frederick W. Lanchester, als Modell für den Flugzeugbau.

Das Interesse an den Flugkünsten von Tieren war so groß, dass das französische Luftfahrtministerium sogar Experimente finanzierte, damit Wissenschaftler das rätselhafte Phänomen erklären konnten. Fischmodelle wurden in einen Windtunnel gespannt, um ihre „Tragflächen“ zu untersuchen, zum Beispiel den Auftrieb, die Stabilität und Elastizität der Flossen bei verschiedenen Windstärken und -richtungen. Ob die Tiere wie Vögel fliegen oder wie sie es sonst schaffen, sich durch die Luft zu bewegen, darüber gingen die Meinungen damals noch weit auseinander.

Heute weiß man, dass die Fische zu den „Gleitfliegern“ gehören, ähnlich den Flughörnchen und Flugechsen in Südostasien. Um zu starten, schlägt der Fisch rund 60-mal pro Sekunde mit seiner stark gegabelten Schwanzflosse und sorgt so für den nötigen Antrieb. Sobald er aus dem Wasser herausschnellt, breitet er seine papierartigen Brustflossen aus und jagt mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 55 Kilometern pro Stunde dicht über die Wellen. Ein einzelner Flug dauert rund zehn Sekunden. Sinkt der Fisch auf die Wasseroberfläche zurück, katapultiert er sich bei Bedarf wieder hoch und segelt weiter. Dieser Vorgang kann sich sechs- bis siebenmal wiederholen, sodass der Fisch mehrere hundert Meter durch die Luft düst.

Erst mit der Verfeinerung der Fototechnik durch den Elektronenblitz konnte man feststellen, dass sich die Brustflossen beim „Fliegen“ nicht aktiv bewegen, sondern als Tragflächen dienen – wie bei einem Flugzeug. Es gibt aber zwei Fischarten, deren Vertreter tatsächlich mit den Flossen schlagen, so wie Vögel mit den Flügeln: der südamerikanische Beilbauchfisch und, weniger ausgeprägt, der afrikanische Schmetterlingsfisch. Beide Arten leben im Süßwasser.

Die Familie der Fliegenden Fische (lateinisch: Exocoetidae) umfasst mehr als 60 Arten, die weltweit in den Tropen und Subtropen heimisch sind. Ein paarmal jedoch haben sich solche Flieger bis nach Norwegen, in den Oslofjord, verirrt. Die kleinen Fische, die nicht größer als 45 Zentimeter werden, besiedeln die oberen Wasserschichten und ernähren sich von Plankton. Manche leben in Küstennähe, andere auf hoher See.

Anhand der Flossen unterscheidet man zwei Gruppen: Die mit zwei „Flügeln“ ausgestatteten besitzen große Brust-, aber nur kleine Bauchflossen, während bei den „Vierflüglern“ die Bauchflossen fast ebenso groß sind wie die Brustflossen. In ihrem anthrazitgrauen oder dunkelblauen Schuppenkleid erinnern sie von weitem sowohl an Heringe als auch an Schwalben, weshalb Matrosen sie „fliegende Heringe“ oder „Seeschwalben“ nennen oder auf Englisch schlicht „bang bangs“, weil sie manchmal gegen die Bordwand knallen.

Das Gleitfliegen eignet sich hervorragend zur Flucht vor Räubern, etwa um den Begehrlichkeiten von Haien, Tunfischen oder Delfinen zu entkommen. An der Unterseite glitzert der Flugfisch silbrig-weiß, sodass jagende Fische ihn gegen die helle Wasseroberfläche nur mit Mühe entdecken. Er verfügt zudem über ein zweigeteiltes Auge, dessen eine Hälfte nach oben schaut, auch über Wasser, die andere Hälfte nach unten. So kann er Gefahren frühzeitig erkennen und – falls nötig – einfach abheben.

Nicht immer jedoch landen die Gejagten in sicherer Entfernung zum Räuber. Manchmal endet ihr Gleitflug an falscher Stelle, nämlich auf einem Schiff. Bei günstigen Steigwinden regnen die aufgeschreckten Schwärme aufs Bootsdeck. Im Internet kursieren seemannsgarnige Geschichten von Yachtbesitzern, für die das eine beängstigende Erfahrung gewesen sein soll. Angeblich wurde ein Einhandsegler von der Wucht eines heranfliegenden Fisches getroffen, sank ohnmächtig ins Meer und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Woher die Geschichte stammt, fragt sich der Leser allerdings vergeblich. Außerdem geht die Rede von Fischen, die auf größeren Schiffen durch die Fenster in die Kajüten hineingeflogen sind und es sogar bis zur Kommandobrücke in zwölf Meter Höhe geschafft haben sollen.

Die Flugfische enden aber auch im Kochtopf des Menschen. Karibische Fischer fangen sie mit einem Trick, indem sie das Fortpflanzungsverhalten der Tiere ausnutzen. Sie legen Flöße aus Zuckerrohrblättern im Meer aus und locken damit die Weibchen an, die ihre Eier normalerweise an schwimmenden Algen ablegen. Nachts kann man die Tiere auch mit Licht in die Netze lotsen.

Auf Barbados werden die Fische, die etwas ölig schmecken und voller kleiner Gräten sind, gerne mit gewürzten Brotkrumen gebraten. Die kreolische Küche bevorzugt sie gefüllt mit Ananas, Mango und Kokosnuss. In Japan isst man den Rogen als Tobiki, einer Form von Sushi, oder in der Surimi-Fischpaste. Auf Sri Lanka gibt es sie mit Tomaten und Chillipfeffer vakuumverpackt zu kaufen. Die Skipper der Yachten filetieren sie und marinieren sie in Zitronensauce. Wo sonst, außer im Paradies, fallen schon mal Fische direkt vom Himmel.

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Onno Groß

Onno Groß, Jahrgang 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. Zuletzt schrieb er in mare No. 14 über den Hai

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Vita Onno Groß, Jahrgang 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. Zuletzt schrieb er in mare No. 14 über den Hai
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