Glaube, Hoffnung, Anker

Der Anker steht symbolisch für die Sicherheit der Menschen auf See. Nur wenige Sinnbilder sind derart einprägsam

Was verbindet Popeye und Sisi? Die Liebe zum Meer und tätowierte Anker. Nichts ist gewöhnlicher für einen amerikanischen Seebären als ein Ankertattoo, umso weniger vermutet man eines bei der österreichischen Kaisergattin. Popeye, das skurrile Einauge, trägt den Anker als Ausweis seiner Profession neben Matrosenanzug und Kapitänsmütze unübersehbar auf gleich beiden Unterarmen. Die elegante Schönheit Sisi dagegen ließ ihn zum Entsetzen ihres Gatten Franz Joseph I. nach alter Seemannsart auf der linken Schulter anbringen. Doch nicht nur mit dem Ankertattoo verstieß die schwermütige Meerbraut gegen jede Konvention: Nie zuvor hatte sich ein weiblicher Vertreter höchster Aristokratie mit einer Besatzung von Seeleuten aufs Meer gewagt. An den Mast des kaiserlichen Segelschiffs „Miramar“ gebunden, hoffte sie, die Brise der Freiheit möge das Unglück ihrer von Familie und Hof eingeengten Seele fortwehen: „Hinaus, hinaus aufs weite Meer treibt mich ein mächtig Sehnen!“ Popeyes witziges Ankerpaar und Sisis geheimer Anker sind individuelle Zeugnisse von Sinnfindung und Seemannsstolz (Popeye) beziehungsweise getriebener Sinnsuche und unerfüllter Sehnsucht (Sisi).

In der Flut von Bildern, die täglich über uns strömt, fällt der Anker als ikonisches Zeichen auf, das durch Schlichtheit und Symmetrie sowie die harmonische Verbindung von Linearität und geschwungenen Formen besticht. Bereits seit dem fünften Jahrhundert vor Christus ist die „klassische“ Grundform des Ankers nachweisbar: ein Ankerschaft, der mit einem Ring am oberen Ende für das Tau respektive die Ankerkette endet und der nach unten zwei gebogene Arme entsendet, die mit herz- oder pfeilspitzenförmigen Schaufeln besetzt sind; ein Querbalken (Ankerkreuz) kann unterhalb des Ringes hinzukommen. So geht das lateinische und italienische áncora etymologisch auf griechisch àgkira (agkon, gebogen) zurück. Der Anker ist, welche materiellen, formalen und funktionalen Varianten auch immer er während der Entwicklung der Seefahrt im Zeitraum von fast fünf Jahrtausenden erfuhr, ein kollektives Symbol, das jeder versteht: Im konkreten maritimen Sinn steht er für die Lebenssicherung oder Rettung, im übertragenen religiösen oder metaphysischen Sinn für Glaube und Hoffnung.

Anker fixieren das schwimmende Schiff an einem bestimmten Punkt. Doch nur jene Orte sind zum Ankern geeignet, an denen die Anker auf Spannung mit dem Schiff gehalten werden. Wenn nicht im Hafen, dann geht das Schiff in der Übergangszone von Land zum Meer vor Anker, jenem mythischen Ort, der die Schwelle zwischen Leben und Tod bedeutet. Hier ist der Mensch den Mächten der Natur und den Göttern ausgeliefert. Nur wer den nächsten Ankergrund im Visier hat, lichtet die Anker. Die Zeit zwischen Aufbrechen und Anlanden bestimmt das ewige Prinzip Hoffnung. Ein Unheil abwendendes Augenpaar zierte daher in der Antike an der Stelle der beiden Hauptanker den Bug des Schiffes. Halten diese und die Nebenanker nicht oder gehen sie verloren, dann setzt man jenen letzten und schwersten Anker, den man in der Antike den heiligen Anker (ancora sacra) nannte. Diesen Reserveanker warf man nur, wenn es um Leben und Tod ging. In der Imagination kann der Delfin, Freund des Menschen, dem Anker zur Hilfe eilen, daher hieß der heilige Anker auch delphis und trug Inschriften, die an Fortuna appellieren. Liegen heilige Anker am Meeresgrund, deuten sie auf Seenot oder Schiffbruch. Wurde der heilige Anker bei einer Seeschlacht von oben auf das gegnerische Schiff geworfen, war dies ein Zeichen militärischen Triumphes. Er galt als letzte Instanz und höchste Autorität. Homer, in dessen Ilias und Odyssee kein Wort häufiger verwendet wird als Schiff, galt den Dichtern daher als sacra ancora.

Die symbolische Kraft des Ankers beruht auf der Kombination der Zweiheit von Wasser und Erde. Er steht daher auch für die Verbindung von Unvereinbarem wie Himmel und Meeresgrund, Endlichkeit und Unendlichkeit, Körper und Geist. Anker zieren manches herzförmige Amulett. Ein Exemplar mit diesem im Herzen verankerten Bild ewiger Liebe trägt die Umschrift „Who shall deny our love eternity“. Das gefährdete Menschenleben auf der einen und ein Leben nach dem Tod auf der anderen Seite symbolisieren ungezählte Anker, die in Gefallenenmonumenten der Marine integriert sind. Anker sind schwer und symbolisieren doch jene unsichtbar fliegenden Wünsche und Träume, welche die Menschen über die Meere und Zeiten hinweg verbinden.

Das Schiff auf dem Meer zählt zu den mächtigen Metaphern des Lebens, der Anker als des Schiffes Pars pro toto ist das Symbol für die Sicherheit der Seelen. Der Anker steht zwischen der Ewigkeit des unendlichen Kosmos und der bedrohlichen Tiefe des Meeres. Anker verbildlichen jene zwischen Anfang und Ende des menschlichen Lebens wachsende Spannung, die nur durch Hoffnung auszuhalten ist. Der Anker steht daher oft für den Hafen, jenem vom Menschen gestalteten Scharnier zwischen Land und Meer. Nicht zufällig zählen das sicher navigierte Schiff und der rettende Anker zu den ersten frühchristlichen Symbolen; Legionen davon finden sich in den Katakomben Roms. Der Anker wurde zum Attribut der theologischen Tugend des Glaubens und von Papst Clemens I., dem dritten Nachfolger Petrus’. Sein Martyrium war grausam: Kaiser Trajan ließ ihn an einen Anker gefesselt im Schwarzen Meer versenken. Sein Gedenktag am 23. November wird daher auch „Ankertag“ genannt. Der heilige Clemens gilt als Patron der Trinität und Beschützer der Leuchttürme und Feuerschiffe, während der heilige Nikolaus von Bari für in Seenot Geratene zuständig ist.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 79. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 79

No. 79April / Mai 2010

Von Nicole Hegener

Die Kunsthistorikerin Nicole Hegener, 1966 in Dortmund geboren, ist seit 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin. Ihr Postdoc-Stipendium an der Bibliotheca Hertziana in Rom und die Begeisterung für das Meer und die Tiberinsel als antikes Felsenschiff führten sie dort zu ihrem aktuellen Buchprojekt Navis Romae. Schiffsmonumente in der Ewigen Stadt.

Mehr Informationen
Vita Die Kunsthistorikerin Nicole Hegener, 1966 in Dortmund geboren, ist seit 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin. Ihr Postdoc-Stipendium an der Bibliotheca Hertziana in Rom und die Begeisterung für das Meer und die Tiberinsel als antikes Felsenschiff führten sie dort zu ihrem aktuellen Buchprojekt Navis Romae. Schiffsmonumente in der Ewigen Stadt.
Person Von Nicole Hegener
Vita Die Kunsthistorikerin Nicole Hegener, 1966 in Dortmund geboren, ist seit 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin. Ihr Postdoc-Stipendium an der Bibliotheca Hertziana in Rom und die Begeisterung für das Meer und die Tiberinsel als antikes Felsenschiff führten sie dort zu ihrem aktuellen Buchprojekt Navis Romae. Schiffsmonumente in der Ewigen Stadt.
Person Von Nicole Hegener