Gischt, Geschichten und Geduld

Der Künstler Steve Dilworth lebt auf den Hebriden. Er arbeitet mit den Materialien, die ihm das Meer anbietet

Steve Dilworth wird sterben. Er wird begraben werden, vielleicht verbrannt oder im Meer versenkt. Er wird sterben wie wir alle. Aber sein eigener Tod schreckt ihn so wenig wie irgendein anderer, denn der Tod ist nur ein Übergang. Steve Dilworth ist nicht krank und noch viel zu jung zum Sterben. Doch der Kreislauf von Leben und Sterben ist ihm immer gegenwärtig, als Inspiration, als Material, als Selbstverständlichkeit.

Ein toter Pottwal war auf Harris gestrandet. Dilworth musste sich beeilen. Schon morgen wahrscheinlich würde die Gesundheitsbehörde den Kadaver in die Luft fliegen lassen, gesprengt im Interesse von Sicherheit und Ordnung. Ein Pottwal, der seit Wochen verendet im Meer getrieben hat, wird am Strand vor allem zu einer Gefahr. Es war schon vorgekommen, dass kletternde Kinder in so einen verrottenden Körper eingebrochen waren.

Der stinkende Fleischberg, zwanzig Tonnen verfaulter Wal, lag auf dem Strand von Hushinish Point und hatte die Schaulustigen angezogen wie die Fliegen. Für Dilworth lagen da wertvolle Materialien: Zähne, Rippen, Wirbel; für die Touristin lag da ein Tier, dessen Würde verletzt wurde. Ihm den Unterkiefer abzusägen war ein Sakrileg, und sie schimpfte wild in ihrem gebrochenen Englisch. Auf dem Weg zum Auto dann erklärte er der Frau, was er vorhabe, und lud sie ins Atelier ein. Sie kam und sah, was er aus den Zähnen des Wals machte. Sie verstand und entschuldigte sich.

Rippen, Wirbel und Zähne eines Pottwals, das Innenohr eines jungen Tümmlers, das Holz einer alten Sumpfeiche, Lang- und Heringleinen, wurmstichiges Treibholz, Haut, Zähne und Rückgrat eines gestrandeten Delfins, skelettierte Kormorane, der Schädel eines Papageientauchers, ein Vogel, den eine der Katzen erbeutet hat, Wasser aus einem Wintersturm, Öl aus dem Fett eines Seehundes, die Steine auf Harris oder der Nordwind selbst sind Steve Dilworths Materialien.

Harris, oft als eigenständig bezeichnet, ist der südliche, kleinere Teil der Hebriden-Insel Lewis and Harris und liegt schützend vor dem schottischen Hochland, karg und schön. Auf felsigen Terrassenstufen spiegeln silberne Seen und Lochs den Himmel. Die Winde des offenen Atlantiks fallen über die Hochebenen herein, kämmen das Gras und streichen über die Wolle der verstreuten Schafe. Auf der ganzen Insel kein Baum, mit Ausnahme einiger kränkelnder Kiefern in einer staatlichen Aufforstung. Kubrick hat die Mars-Sequenz seiner „Space Odyssey“ hier gedreht: ein kleines Propellerflugzeug, eine Kamera mit Rotfilter, eines der kahlen Hochmoore auf Harris.

Hier zu leben ist hart. Dilworth wohnt mit Joan, seiner Frau, in einem abgeschiedenen Haus. Daran lehnt sich auf der einen Seite sein Atelier, und auf der anderen Seite kämpfen die Rosen in Joans Garten gegen den Wind und das Salz in den Böen; ein kleiner Bach neben dem Haus, im Rücken ein grasbewachsener Hügel, der Blick fällt auf eine weite Bucht. Im Eingang der Kate hängt das Ölzeug über einer Reihe von Gummistiefeln. Statt eines Teppichs ein armdickes Ankertau, zu einer Schnecke gerollt, auf dem Fensterbrett der Atlasknochen eines Bartenwals. Das ganze Erdgeschoss ein großer Raum mit Küche, Esstisch und Wohnzimmer. Das größte Fenster geht auf die Bucht hinaus. Bei klarem Wetter kann man bis zum schottischen Festland sehen.

Im Fenster liegt ein faustgroßes Objekt, eine Eiform, fein geglättet, braun und weiß. Wer es bewegt, hört im Inneren etwas leise rasseln. Steves Geschenk an Joan, eine Art erneuertes Eheversprechen. In der Hülle aus Speckstein und Walknochen liegt das entzwei gebrochene Gabelbein eines Huhns, ein altes Symbol für einen erfüllten Wunsch. Sie haben zusammengehalten, Joan und Steve – „for better or worse“.

Vor vielen Jahren sind sie mit den beiden kleinen Töchtern aus Wales hierher gekommen, ein junger unbekannter Künstler mit seiner Familie. Sie haben das Haus renoviert, das Atelier angebaut, den Garten umzäunt, die Töchter großgezogen. Es war nicht einfach. Die Einheimischen haben etwas gegen Zugereiste, vor allem wenn es keine Schotten sind. Dilworths Kunst verkaufte sich schlecht. Erst seit einigen Jahren ist das anders geworden. Heute, mit über fünfzig Jahren, kann er die Früchte seiner Arbeit ernten. Seine Galeristen in London und Nottingham zeigen und verkaufen seine Arbeiten regelmäßig, er gibt einmal pro Semester Anatomiekurse an der Royal Academy in London, das Scottish Arts Council hat sich an einem Katalog beteiligt. Die erwachsenen Töchter Beka und Alexis gehen eigene Wege, sind nach London gezogen, arbeiten dort als Fotografin, als Malerin. Joan „macht die Bücher“. Das ist einfacher geworden, seit sie nicht mehr jeden Penny zweimal umdrehen muss.

Warum bleiben? Einmal ging Steve Dilworth über die höchsten Felskuppen auf der Insel. Zwischen den trockenen Grasbüscheln entdeckte er eine frische dünne Blutspur. Er folgte ihr und erwartete ein sterbendes oder totes Tier. Er fand ein Mutterschaf mit frisch geworfenen Lämmern, Zwillinge. In der Nähe dieser Stelle gab es einen riesigen Felsbrocken, der so auf einem anderen auflag, dass man ihn trotz seines Gewichts ein wenig schaukeln konnte. Der Stein liegt dort noch immer in seinem labilen Gleichgewicht. Die Gegend ist weit weg von jedem Weg. Harris ist einsam. Wenn man einen Stein umdreht, kann es sein, dass er seit der letzten Eiszeit nicht mehr bewegt wurde. Gelegentlich besucht Dilworth den Ort mit dem Stein und der Erinnerung an die Zwillingslämmer. Er lässt seinen Blick über die Landschaft wandern. Stille, drohende, vornehme Farben, wollweiße Kleckse auf dem dürren Braun des Wintergrases, auf dem Dunkelgrau der Felsen, auf dem Schwarz der Torfstiche. Dilworth schaukelt den tonnenschweren Felsen ein wenig. Vielleicht einer der Gründe zu bleiben.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 20. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 20

No. 20Juni / Juli 2000

Von Hansjörg Gadient, Vincent Kohlbecher und Beka Dilworth

Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt und freier Autor. Das letzte Kunstwerk, über das er berichtet hat, war der konservierte Hai von Damian Hirst in mare No. 14.

Vincent Kohlbecher, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg. In mare No. 11 erschienen seine Aufnahmen des Stockholmer Gourmetschiffs „Blidösund“. Der Besuch auf den Hebriden im Januar bei Sturm und Temperaturen unter null Grad war sein bisher kältester Auftrag.

Beka Dilworth ist die Tochter des Künstlers. Sie ist Fotografin und lebt in London.

Die Galerie von Steve Dilworth: Hart Gallery, 113 Upper Street, London N1 1QN, Tel: 0044/171 704 1131

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Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt und freier Autor. Das letzte Kunstwerk, über das er berichtet hat, war der konservierte Hai von Damian Hirst in mare No. 14.

Vincent Kohlbecher, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg. In mare No. 11 erschienen seine Aufnahmen des Stockholmer Gourmetschiffs „Blidösund“. Der Besuch auf den Hebriden im Januar bei Sturm und Temperaturen unter null Grad war sein bisher kältester Auftrag.

Beka Dilworth ist die Tochter des Künstlers. Sie ist Fotografin und lebt in London.

Die Galerie von Steve Dilworth: Hart Gallery, 113 Upper Street, London N1 1QN, Tel: 0044/171 704 1131
Person Von Hansjörg Gadient, Vincent Kohlbecher und Beka Dilworth
Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt und freier Autor. Das letzte Kunstwerk, über das er berichtet hat, war der konservierte Hai von Damian Hirst in mare No. 14.

Vincent Kohlbecher, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg. In mare No. 11 erschienen seine Aufnahmen des Stockholmer Gourmetschiffs „Blidösund“. Der Besuch auf den Hebriden im Januar bei Sturm und Temperaturen unter null Grad war sein bisher kältester Auftrag.

Beka Dilworth ist die Tochter des Künstlers. Sie ist Fotografin und lebt in London.

Die Galerie von Steve Dilworth: Hart Gallery, 113 Upper Street, London N1 1QN, Tel: 0044/171 704 1131
Person Von Hansjörg Gadient, Vincent Kohlbecher und Beka Dilworth