Gelée de mer

Wie schwebende Vorhänge gleiten Quallen durch die Ozeane. Bezaubernde Blicke auf eine wehrhafte Schönheit

Das traut man ihnen schon zu, den Quallen, wenn man sie so kraftlos am Strand daliegen sieht, vom Meer aufs Land gespuckt? Nimmt man die glibberige Masse in die Hand, scheint sie zwischen den Fingern hindurchzurinnen, als sei sie eine Flüssigkeit. Was ja irgendwie auch stimmt, denn immerhin bestehen rund 99 Prozent des Körpers aus Wasser. Doch nicht alle Quallen fühlen sich wabbelig an, manche sind eher fest wie ein Stück Schweineschwarte.

Die Franzosen nannten die Gallertwesen gelée de mer. Dreht man sie um, quellen ihre Fangarme wie Haare aus einem unförmigen Kopf. Das brachte ihnen in der Wissenschaft den Namen Meduse ein, inspiriert von Medusa, dem Schlangenhaare tragenden Fabelwesen aus der griechischen Mythologie. Ihr Aussehen war so grauenhaft, dass jeder, der sie erblickte, sogleich zu Stein erstarrte. Dies Schicksal widerfährt dem Betrachter einer Qualle nicht. Dafür ein anderes, nicht weniger unangenehmes, falls er Pech hat.

Die Quallen sind den Meeren auf besondere Weise verbunden. Sie gehören zu den Protagonisten aus dem Reich der Tiere, die vor mehr als einer halben Milliarde Jahren die leeren Ozeane bevölkerten. Seitdem treiben oder schwimmen sie aktiv als Teil des Planktons durch die Weltmeere – ohne Gehirn, Herz und Blut. Vollkommen ausgetrocknet bleibt von ihnen kaum etwas übrig, keine Knochen, keine Sehnen, nur ein zartes, schillerndes Häutchen, ähnlich der Kriechspur einer Schnecke, schrieben Naturforscher Anfang des letzten Jahrhunderts. Manche wollten es genauer wissen, rückten mit der Waage an und stellten fest, dass sich eine saftige Meduse von fünf bis sechs Kilogramm in der Tat auf einen zehn Gramm leichten Rest eintrocknen lässt.

Ein frisches Exemplar dieses Kalibers ist an heimischen Küsten schon ein Hingucker. Eine Handvoll Ohrenqualle Aurelia aus der Ostsee bringt es auf knapp ein halbes Kilogramm. Die Furchenqualle Versuriga hält 80 Kilogramm in Bewegung. Es kann auch ganz dicke kommen: So manche Meduse pulsiert als graziler Eintonner durch die ozeanische Weite. Die kleinste bekannte Qualle ist Halammohydra. Das stecknadelkopfgroße Tier lebt im Sandlückensystem der Nordsee.

Der Grundbauplan der Quallen ist recht einfach: Sie bestehen aus zwei einschichtigen Lagen von Zellen, knapp ein fünfzigstel Millimeter dick, die eine Stützmasse umschließen und dem Körper seine Form geben. Die Fangarme legen die Mahlzeiten vor, die über das Mundrohr in den Magenraum gelangen. Bei der Gestaltung der mit feinen Muskelfasern durchsetzten, samtglatten oder rauen Schirme geht die Natur höchst kreativ zu Werke. Es gibt Teller, Glocken, Pilze oder Würfel.

Viele Quallen besitzen einen glasklaren oder milchweißen Leib. Die meisten Großquallen, die zur Gruppe der fast 200 Scheibenquallen zählen, bekennen jedoch Farbe. Die Spiegeleiqualle etwa bringt ein knalliges Gelb in die Unterwasserlandschaft. Kreuzquallen durchstreifen die See als türkisfarbene Gallertbrocken. Die transparenten Sternhimmelquallen, häufig von Stachelmakrelen begleitet, sind von weißen Pünktchen übersät. Manchmal leuchten inmitten eines gläsernen Körpers auch einfach nur die Geschlechtsorgane, dann aber gleich in knalligem Rot.

Quallen bewegen sich nach dem Rückstoßprinzip. Kleinere Vertreter hasten mit sekundenschnellen Kontraktionen der Schirme umher. Größere Exemplare scheinen durchs Wasser zu schweben, lassen Taucher an langsam vorbeiziehende Planeten oder Raumkreuzer denken.

Wehe dem, der die zerbrechlichen Schönheiten unterschätzt. Sie wissen sich zu behaupten. Quallen tragen mit Gift gefüllte Nesselkapseln, die bei Berührung explodieren. Allein die Gelbe Haarqualle Cyanea, hier zu Lande als Feuerqualle bekannt, sorgt für brennende Schmerzen und heftiges Unwohlsein. Mehr Schaden richtet sie beim Menschen nicht an, wenn auch Sherlock Holmes in der Geschichte „Die Löwenmähne“ ein Exemplar dieser Art für den Tod eines Mannes verantwortlich macht.

Doch wer weiß, immerhin legen die bernsteinfarbenen Medusen mit ihren feinen Tentakeln die größten Spannweiten an den Tag, die je eine Qualle vor den Augen des Menschen gezeigt hat. Vor rund 50 Jahren spülten die Wellen eine Feuerqualle mit einem Schirmdurchmesser von 2,30 Meter an die isländische Küste. Kinder mit Quallenerfahrung wissen diese haarige Sorte richtig zu nehmen. Sie lassen sie links liegen und bewerfen sich lieber mit den harmlosen Ohrenquallen.

Andere Quallen, andere Qualen: Wer auf Tuchfühlung mit der Seewespe Chironex fleckeri geht, riskiert sein Leben. Die in Nordostaustralien beheimatete Würfelqualle gilt als das giftigste Lebewesen im gesamten Tierreich. Die Tentakel sitzen auf der Unterseite seines würfeligen Leibes, und zwar an den vier Ecken. Sie enthalten einen noch unerforschten Giftcocktail, der Nerven und Herz seiner Opfer tödlich lähmt. Die Gruppe der Wurzelmundquallen kommt ohne Tentakel zurecht. Unter ihrem Schirm sitzt ein feines System verwachsener Mundarmöffnungen, mit denen die Gallertriesen die Beutetierchen aus dem Wasser abfischen.

Quallen machen sich über Planktonorganismen aller Art her, Würfelquallen trauen sich sogar an Krebse und Fische heran. Der Trick mit den Tentakeln hat weit reichende Konsequenzen. „Wenn eine Feuerqualle von einem Meter Durchmesser ihre 30 Meter langen Tentakel in einem Winkel von 45 Grad abspreizt und damit zehn Meter weit schwimmt, kann sie über 7000 Kubikmeter Wasser durchforsten“, sagt Thomas Heeger, Meeresbiologe und Quallenexperte, derzeit für das Tierhandelsunternehmen MarineFauna auf den Philippinen, „das entspricht dem Wasservolumen zweier Schwimmbäder.“

Kommt ein Opfer mit den Tentakeln in Kontakt, startet im Körper der Qualle eine physiologische Kettenreaktion. Schauplätze sind die bis zu einem hundertstel Millimeter breiten Nesselkapseln. Jede Kapsel birgt einen eingestülpten Schlauch, der zudem um seine eigene Achse gezwirbelt und mit feinen Dornen versehen ist. Er mündet in eine Art Injektionsnadel. Melden die Sinneshärchen eine Appetit machende Berührung, steigt der Innendruck der Kapsel auf über 150 Bar an, und ein Deckelchen springt auf. Der Nesselschlauch krempelt sich um, entspannt sich mit einer Drehbewegung und schießt mit der Spitze voraus auf das Opfer zu.

„Durch die Rotation gelangen wie bei einem Drillbohrer immer neue, unverbrauchte Bohrzähnchen nach vorne, die den Schlauch butterweich in das Gewebe eindringen lassen“, sagt Heeger. Vom Öffnen des Deckels bis zum Versenken des Schlauches vergehen nur drei Millisekunden – ein Airbag braucht die zehnfache Zeit, bis er aufgeblasen ist. Über den Nesselschlauch strömt der Giftcocktail in den Körper des Beutetiers. „Eine Seewespe besitzt schätzungsweise 150 bis 200 Millionen Nesselkapseln“, sagt Heeger, „diese Giftmenge reicht aus, um 250 erwachsene Menschen zu töten.“ Als Erste-Hilfe-Tipp bei Verletzungen durch Quallen gilt: Essig auf die verletzte Stelle geben, um die Entladung weiterer Kapseln zu stoppen. Und niemals Meer- oder Süßwasser verwenden, es heizt die Nesselung erst richtig an.

Die Natur ist trickreich. Nicht alles ist eine Qualle, was wie eine Qualle aussieht. Die äußerst zerbrechlichen Rippen- oder Kammquallen etwa sind von transparenter, gallertiger Konsistenz, können aber nicht nesseln. In ihren rhythmisch schlagenden Wimpernkämmen brechen sich die Lichtstrahlen, dass die Regenbogenfarben nur so schillern.

Ebenfalls keine echte Qualle ist die Portugiesische Galeere Physalia. Das silberblaue, mit einer lebensgefährlichen Portion Nesselkapseln und 50 Meter langen Fangarmen bestückte Geschöpf gehört zu den Staatsquallen – hoch entwickelte Tierstaaten mit strikter Arbeitsteilung ihrer winzigen Einzelindividuen, der so genannten Polypen. Als Bewohner der tropischen und subtropischen Hochsee hat sich Physalia das Segeln zu Eigen gemacht. Eine mit Gas gefüllte Blase von der Größe einer Kokosnuss liefert die Segelfläche. Man sagt ihr nach, dass sie bis zu 40 Grad am Wind segeln kann, vorausgesetzt, die Brise ist nicht zu stark.

Die echten Quallen halten sich indes vorwiegend in Küstennähe auf. Auch sie kommen um die Lebensform des Polypen nicht herum. Bei der Fortpflanzung entlassen die Weibchen und Männchen – auch das gibt es bei den Quallen – ihre Eizellen und Spermien ins Wasser. Nach der Befruchtung entsteht eine Larve, die sich auf Steinen, Bojen oder Kielen von Yachten niederlässt und zu einem millimeterkleinen, doppelwandigen Schlauch heranwächst, dem Polypen. Er schnürt in Fließbandarbeit die neue Generation der schwimmenden Geleescheiben als Miniaturausgabe von seinem Leib ab.

Quallen gelten als niedere Lebensformen und sind im Stammbaum der Tiere irgendwo zwischen Schwämmen und Plattwürmern angesiedelt. Derart unterschätzt, lässt es sich trefflich für Überraschungen sorgen. Quallen verfügen über ein hohes Regenerationsvermögen, ein gut ausgebildetes Nervensystem sowie Sinnesorgane, mit denen sie hell und dunkel, oben und unten unterscheiden können. Würfelquallen halten der Umwelt sogar Linsenaugen mit Hornhaut und Glaskörper entgegen. Was sie damit tatsächlich sehen können, ist unklar.

Ein soziales Naturell besitzen Quallen nicht. Sie treiben sich meist allein in den Meeren herum, es sei denn, eine Massengeburt hat sie bei geeigneten Strömungsverhältnissen zu einem Quallenschwarm verdichtet, der eigentlich keiner ist, weil die Tiere nicht miteinander, sondern nur nebeneinander agieren. Seltsame Schauspiele gibt es immer wieder: In den Quallenseen von Palau drängeln sich zeitweise bis zu 1000 Exemplare der bräunlichen Wanderqualle Mastigias in einem Kubikmeter Wasser. Im kleinsten See, Eil Malk, treffen sich die Tiere täglich bei Sonnenaufgang zu einer Massenwanderung durch ihr Heimatgewässer. Abends geht es wieder zurück. Der Mensch empfindet die glibberigen Ansammlungen als Bedrohung. Allerorten fressen Quallenschwärme Laichgründe leer. Und immer wieder gibt es im Spätsommer Invasionen von Feuerquallen an heimischen Stränden. Auf der philippinischen Insel Luzon drehten vor mehreren Jahren geschätzte 50 Tonnen Wurzelmundquallen Millionen Menschen den Strom ab, weil sie das mit Seewasser betriebene Kühlsystem eines Kraftwerks lahm legten.


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mare No. 47

No. 47Dezember 2004 / Januar 2005

Von Ute Schmidt

Ute Schmidt, Jahrgang 1966, ist Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin in Solingen.

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Vita Ute Schmidt, Jahrgang 1966, ist Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin in Solingen.
Person Von Ute Schmidt
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