Entwurzelt

Vor fünf Jahren schlug der Hurrikan „Katrina“ New Orleans und erzwang den Exodus Hunderttausender Einwohner. Bis heute leben viele von ihnen in unfreiwilliger Diaspora


Die Jahrhundertflut, di e New Orleans vor vier Jahren verheerte, war von der Welt mit widersprüchlicher Anteilnahme verfolgt worden. Die Bilder von Verzweifelten, die auf ihren Hausdächern auf Rettung warteten, von Armen und Kranken, die ihrem Schicksal überlassen blieben, weckten ein hämisches Mitleid. In der Ära der verhassten Bush-Regierung nährten sie ein Vorurteil, das sich durch Jahrhunderte zurückverfolgen lässt: dass Amerika von Geld und Gewalt regiert, kulturlos und unzivilisiert sei. Nun, hieß es, habe sich sein wahres Gesicht gezeigt.

Das trifft zu, wenn auch nicht, wie Antiamerikaner es vermeinen. Die Katastrophe von New Orleans ist wie ein Prisma, das das Licht in seine Spektralfarben zerlegt. Will man sich ein Bild machen, braucht man die ganze Palette. Zwar haben sich die Schauergeschichten marodierender Banden, geschändeter Säuglinge und vergewaltigter Touristinnen, die damals kursierten, als Gräuelmärchen erwiesen. Als Stereotypen des Rassismus wurden sie selbst von Leuten kolportiert, die Washington des Rassismus bezichtigten, weil es der Schwarzenmetropole nicht rasch genug zu Hilfe kam. Das Schreckbild der Weißen, der lüstern-bedrohliche Schwarze, war wieder da, mit all den Haien, Alligatoren und Giftschlangen, die sich angeblich im Flutwasser tummelten.

New Orleans, dieser Dschungel, war das Herz der Finsternis. Zweifellos hat die Regierung versagt, selbst wenn man das Ausmaß des Desasters in Rechnung stellt. Innerhalb eines Tages waren an jenem 29. August 80 Prozent des Stadtgebiets in den Fluten versunken. In der Küstenregion wurden 1,3 Millionen obdachlos, benötigten Unterkunft, Essen, Arbeit und Schulen für die Kinder. 1100 starben allein in New Orleans. Vier Fünftel der Stadtbevölkerung wurden evakuiert.

Der Rest, nicht motorisiert, sorgte für die Szenen, die an die Dritte Welt erinnerten: Menschenmassen ohne Nahrung, Wasser und ärztliche Hilfe. Fidel Castro nutzte denn auch als Erster die Chance, die Supermacht mit einem Hilfsangebot zu demütigen.

Das Versagen des Staates ist in umfangreichen Berichten von Untersuchungskommissionen dokumentiert worden. Der reichsten und mächtigsten Nation der Welt, so das Fazit, mangelte es weder an Geld, Ausrüstung oder Willen, sondern an Führung. Vor allem der Inkompetenz von Präsident Bush ist es zu schulden, dass die Folgen der notorischen Nachlässigkeit der Behörden von Louisiana und New Orleans nicht abgefedert werden konnten.

Die Erfahrung europäischer Geschäftsleute, dass Korruption, Ineffizienz und mangelnde Rechtssicherheit gegen Süden und Osten hin zunehmen, gilt auch für die USA . Touristen, die dem Charme von New Orleans erliegen, bleibt wie denen der malerischen Städte Süditaliens verborgen, was alles nicht funktioniert, weil Politiker, Polizisten und Staatsdiener nicht für die Allgemeinheit, sondern sich selbst sorgen. Die Liste der derzeitigen Gefängnisinsassen in der Region New Orleans umfasst einen Gouverneur, einen Justizminister, ein Mitglied einer Wahlkommission sowie mehrere Richter, Beamte und Parlamentarier. Die Stadt selbst hat zwei Sheriffs, zwei Urkundsbeamte und drei verschiedene Gerichtssysteme; eine Bürokratie und ein Kompetenzgerangel, das einen entnervten Politiker einst seufzen ließ, es sei Zeit, sich endlich dem Rest der Vereinigten Staaten anzuschließen. Die Redensart, New Orleans sei nicht die am schlechtesten organisierte Metropole der USA , sondern die bestorganisierte der Karibik, bestätigt die Diagnose. Die Tatsache, dass in der Stunde der Not ein Drittel der Polizei desertierte, ist nur eines von vielen Symptomen.

Dass die Lokalbehörden versagen würden, war voraussehbar für jeden, der die Geschichte der Stadt und ihrer Institutionen kennt. Doch auch die Fema, der nationale Katastrophenschutzdienst, stand mit Ausnahme der Amtszeit von Bill Clinton im Ruf eines Abschiebepostens für politische Günstlinge, die wenig taugen. Der Zwist innerhalb der Behörde, ob man sich gegen Naturkatastrophen oder Bedrohungen der nationalen Sicherheit wappnen solle, schwächte sie ebenso wie die 2003 erfolgte Integration in das neu geschaffene Department of Homeland Security, als deren „rothaariges Stiefkind“ sie galt. Ihr Leiter zur Zeit des Hurrikans „Katrina“, von Bush eingesetzt, hatte sich für das Amt qualifiziert als vormaliger Funktionär einer Vereinigung von Pferdezüchtern.

Sieht man vom Unvermögen einzelner Personen ab, illustriert das eingetretene Chaos den extensiven Föderalismus Amerikas. Die USA werden als globale Macht wahrgenommen, die mit einer Stimme spricht. Innenpolitisch sind sie jedoch ein Flickenteppich lokaler und einzelstaatlicher Autonomien, die einander sowie der Bundesregierung zutiefst misstrauen. Nicht nur konservative Amerikaner wollen deshalb so wenig Staat und so viel Freiraum als möglich. In Normalzeiten trägt das mit bei zur Dynamik und Experimentierfreude, die die amerikanische Gesellschaft auszeichnen.


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mare No. 76

No. 76Oktober / November 2009

Von Peter Haffner und Kadir van Lohuizen

Peter Haffner, Jahrgang 1953, berichtet für Das Magazin des Schweizer Tages-Anzeigers und andere Publikationen aus den USA. Er lebt in Nordkalifornien in der Nähe von San Francisco. Hurrikane sind da nicht zu befürchten, dafür Erdbeben – doch an die drohende Großkatastrophe mögen die Bewohner des „Golden State“ ebensowenig denken wie jene der Golfküste, ehe „Katrina“ zuschlug.

Der Amsterdamer Fotograf Kadir van Lohuizen, Jahrgang 1963, kam eine Woche nach „Katrina“ in New Orleans an. „Ich bin kein Nachrichtenfotograf und hatte auch nicht vor, hier einer zu werden, doch als ich begriff, dass es nicht der Hurrikan war, der so viel Leid verursachte, sondern die mangelhafte Krisenbewältigung, fühlte ich mich verpflichtet, das Leben der Einwohner zu dokumentieren.“ Seither begleitet er regelmäßig einige Familien, die ihre Heimat und ihr Hab und Gut in der Katastrophe verloren haben, in ihrem Alltag in der Diaspora.

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Vita Peter Haffner, Jahrgang 1953, berichtet für Das Magazin des Schweizer Tages-Anzeigers und andere Publikationen aus den USA. Er lebt in Nordkalifornien in der Nähe von San Francisco. Hurrikane sind da nicht zu befürchten, dafür Erdbeben – doch an die drohende Großkatastrophe mögen die Bewohner des „Golden State“ ebensowenig denken wie jene der Golfküste, ehe „Katrina“ zuschlug.

Der Amsterdamer Fotograf Kadir van Lohuizen, Jahrgang 1963, kam eine Woche nach „Katrina“ in New Orleans an. „Ich bin kein Nachrichtenfotograf und hatte auch nicht vor, hier einer zu werden, doch als ich begriff, dass es nicht der Hurrikan war, der so viel Leid verursachte, sondern die mangelhafte Krisenbewältigung, fühlte ich mich verpflichtet, das Leben der Einwohner zu dokumentieren.“ Seither begleitet er regelmäßig einige Familien, die ihre Heimat und ihr Hab und Gut in der Katastrophe verloren haben, in ihrem Alltag in der Diaspora.
Person Von Peter Haffner und Kadir van Lohuizen
Vita Peter Haffner, Jahrgang 1953, berichtet für Das Magazin des Schweizer Tages-Anzeigers und andere Publikationen aus den USA. Er lebt in Nordkalifornien in der Nähe von San Francisco. Hurrikane sind da nicht zu befürchten, dafür Erdbeben – doch an die drohende Großkatastrophe mögen die Bewohner des „Golden State“ ebensowenig denken wie jene der Golfküste, ehe „Katrina“ zuschlug.

Der Amsterdamer Fotograf Kadir van Lohuizen, Jahrgang 1963, kam eine Woche nach „Katrina“ in New Orleans an. „Ich bin kein Nachrichtenfotograf und hatte auch nicht vor, hier einer zu werden, doch als ich begriff, dass es nicht der Hurrikan war, der so viel Leid verursachte, sondern die mangelhafte Krisenbewältigung, fühlte ich mich verpflichtet, das Leben der Einwohner zu dokumentieren.“ Seither begleitet er regelmäßig einige Familien, die ihre Heimat und ihr Hab und Gut in der Katastrophe verloren haben, in ihrem Alltag in der Diaspora.
Person Von Peter Haffner und Kadir van Lohuizen