Ekel, Lust und andere Abgründe

Mythos oder Wahrheit? Grausige Geschichten über Tintenfische. Ein Fall für Literaten und Psychologen

Wir fühlen uns mit sich auf Knochen stützendem Leben verbunden und empfinden Ekel anderen Lebensformen gegenüber.“ Was 1987 der tschechische Philosoph Vilém Flusser (1920–1991) im Vorwort seines Buches „Vampyroteuthis infernalis“ erklärt, macht die Kraken, Kalmare und Tintenfische mit zu dem Ekeligsten in der Werteskala der Menschen. Tintenfische gehören zu den Weichtieren und sind phylogenetisch gesehen, das heißt in der stammesgeschichtlichen Entwicklung, vom Menschen so weit entfernt wie die ebenfalls ekeligen Würmer. Er ist ein „schleimiges, weiches und langsames Wesen“, er „starrt uns mit seinen haßerfüllten, menschenähnlichen Augen an, während seine pneumatische Haut von Grau zu Violett und Blau wechselt, seine Saugorgane auf- und zuklappen, aus seinem Maul Wasserstrahlen sprudeln“, schreibt Vilém Flusser.

Die Fabeln, in denen Tintenfische als abstoßende Untiere und Monster herhalten müssen, ziehen sich durch die gesamte Literaturgeschichte. Angefangen von Homers Abenteuerheld Odysseus, der zusehen mußte, wie sechs seiner tapfersten Freunde verzweifelt zappelnd von dem blutrünstigen, zwölffüßigen und sechsköpfigen Monster Scylla verspeist wurden, bis hin zum zeitgenössischen Roman „Beast“ von Peter Benchley, dem Fortsetzungsroman des Horrorklassikers „Der weiße Hai“.

Im Mittelalter sind es die ersten systematischen Naturgeschichten der seefahrenden Bischöfe – wie Olaus Magnus aus Uppsala im Jahre 1555 und Erik Pontopiddan am Anfang des 18. Jahrhunderts –, die von einem schwimmenden Ungeheuer berichten. Der „trügerische Krake“, den letzterer gesichtet haben will, sei so groß „wie eine von treibendem Tang umspülte Insel, der Rücken allein 1,5 englische Seemeilen lang mit vielen Hörnern gleich Masten mittelgroßer Schiffe“. Mit seinen unzähligen Fangarmen könne er mühelos selbst die größten Schiffe in die Tiefe ziehen. Solche Schilderungen sorgten für Schrecken unter den Landbewohnern, wenn auch im Dienste der Kirche: Ein Krake soll – der Sage des Dänen Bartholinus nach – erst dann untergetaucht sein, als die Messe auf seinem Rücken zu Ende gelesen worden war.

Die Geschichte vom schiffeversenkenden Seekraken wurde auch Vorbild für Jules Vernes berühmten Roman „20000 Meilen unter dem Meer“. „Und war sein Kopf nicht von acht Fangarmen gekrönt, die sich auf dem Wasser bewegen wie ein Schlangennest?“ fragt der Diener Conseil den Professor Aronnax an Bord der „Nautilus“. „Genau.“ „Und waren seine Augen nicht dicht über dem Kopf ziemlich groß?“ „Ja, Conseil.“ „Und glich sein Maul nicht einem Papageienschnabel, aber einem sehr großen?“ „In der Tat, Conseil.“ „Eh bien! Mein Herr möge zum Fenster hinausschauen: Wenn dies nicht der Kalmar von Kapitän Bouguer ist, so ist es mindestens einer seiner Brüder.“ Kapitän Nemo und die Mannschaft der „Nautilus“ hatten alle Mühe, sich vor dieser „Laune der Natur“, diesem „Weichtier mit einem Vogelschnabel“ und seinen Fangarmen mit Axthieben zu retten.

Jules Verne verarbeitet für seinen Roman die Kenntnisse des 19. Jahrhunderts und besonders jenes Ereignis, das sich an Bord des Segelschiffes „Alceton“ zugetragen hatte. Das Schiff hatte 1861 einen Riesenkraken gejagt, mit Kanonen beschossen und immerhin ein Stück eines Tentakels gefangen. Der Kapitän Bouguer schrieb einen Bericht für die Akademie der Wissenschaften und brachte damit endgültig den wissenschaftlichen Beweis für die Existenz dieses Ungeheuers.

Der Mythos vom Riesentintenfisch, in der Zeit der Romantik von Jules Verne, Herman Melville und anderen aufgegriffen, wird durch die Forschungsexpeditionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts jedoch nicht bestätigt. Der amerikanische Autor Richard Ellis gibt in seinem Buch „Seeungeheuer“ eine detaillierte Analyse der bekannten Legenden und Sagen. „Architeuthis, der Riesentintenfisch, ist das ultimative Meeresungeheuer und vermutlich verantwortlich für mehr Schauermärchen und Mythen als irgendein anderes Meeresgeschöpf.“ Der Autor listet zirka 140 historische Sichtungen vom Riesentintenfisch Architeuthis zu Wasser und zu Land auf. Interessanterweise hat es seit Erscheinen des Buches 1994 trotz größter wissenschaftlicher Anstrengungen mit Tauchbooten, Ködern und sogar kamerabestückten Walen noch immer keine Lebendbeobachtung gegeben. Nach wie vor also eine Herausforderung für die Kryptozoologen, jene Wissenschaftler, die sich die Erforschung unentdeckter Tiere wie dem Seeungeheuer vom „Loch Ness“ oder eben dem Riesentintenfisch zur Aufgabe gemacht haben.

Während es sich in den bereits geschilderten Legenden zumeist um den wirklich existierenden Riesentintenfisch mit Namen Architeuthis handelte, gibt es ebenso zahlreiche mythische Geschichten, die von dem an den Küsten beheimateten Kraken oder Oktopus handeln. Die Größe der Kraken – die im Nordpazifik lebende Art Octopus dofleini erreicht immerhin Spannweiten von neun Metern und ein Gewicht von 250 Kilogramm – steht dabei nicht so sehr im Vordergrund, als eher die Gefahr für Leib und Seele durch das achtarmige, mit Saugnäpfen festhaltende und verschlingende Monster.

Die Antike verfügte mit den naturkundigen Berichten von Plinius und Aristoteles schon über recht genaue Kenntnisse der Biologie des Kraken. Das Tier galt als Symbol der Liebe und hat anfangs offenbar weder Schrecken noch Ekel hervorgerufen. Auf zahlreichen Münzen, Vasen und in der Töpferkunst aus Knossos, Mykenä und Zypern finden sich Tintenfische als ornamentales Meeresmotiv. Man schätzte besonders seine Geschicklichkeit und deutete diese als Umsicht und Scharfsinn, ja sogar als Seelenstärke. Andererseits wurden erste Sagen vom grausamen, in die Tiefe des Meeres ziehenden Kraken gesponnen. Zwar beziehen sich das sechsköpfige, gefräßige Monster Scylla bei Homer und das schlangenförmige, behaarte Haupt der Gorgo eher auf Fabelwesen aus dem Reich der Phantasie, aber der Krake war sicherlich eine Anregung dafür.

Dem Christentum war die Gabe zu List und Täuschung nicht geheuer. Der Krake, der seine Beute durch Tarnung täuscht, verkörpert schließlich den Teufel selbst oder die sündhafte Frau, weil er den unvorsichtigen Menschen das Verhängnis nicht erkennen läßt. Der Krake wird zum Symbol für den Versucher, Verräter, Lügner und Geizhals, welcher besonders gern Schätze hortet, die er seinen Opfern abgepreßt hat. Letztere Metapher hat sich bis in heutige Zeiten gehalten.

Eine imposante prosaische Bearbeitung des Krakenmythos stammt von Victor Hugo. In seinem Roman „Die Arbeiter des Meeres“, der 1866 erschien, geht es um den fast vergeblichen Kampf des Helden Gilliat mit einem fürchterlichen Kraken. Gilliat, der nach einem Schiffbruch einsam auf einem Felsen hockt und dort zum Muschelholen ins Wasser muß, wo das Untier haust, erleidet entsetzliche Visionen von seinem aquatischen Widersacher. „Etwas Wabbeliges, das einen Willen hat, was könnte entsetzlicher sein! Von Haß durchdrungener Schleim“, beschreibt Hugo das Ungeheuer in der Tiefe. Die furchterregendste Waffe des Kraken sind dabei seine Tentakel: „Eine Kralle ist nichts gegen einen Saugnapf. Mit der Kralle gräbt sich uns ein Tier ins Fleisch; durch den Saugnapf gehen wir selbst in das Tier über.“ Das Opfer wird von „zahllosen gemeinen Mäulern angezapft“ und lebendigen Leibes ausgeschlürft. Hugos metaphysischer Roman war überaus erfolgreich – er wurde im ersten Jahr fünfzehnmal aufgelegt –, und der Krake wurde zur Mode: von Krakenhüten bis zur Bankettdelikatesse.

Das Fleisch des Kraken galt seit den Griechen als aphrodisisch. Und ein Lebewesen, das mit so vielen Armen umschlingen und mit so vielen Mündern saugen kann, mußte zwangsläufig zum Symbol der Liebe werden.

Im entfernten Japan diente die imaginierte Lüsternheit des Kraken als Motiv für einen berühmten Holzschnitt von Hokusai. Zwischen den Schenkeln einer hingestreckten Frau hängt der Krake gierig am Geschlecht dieser zweifellos verzückten und ekstatischen Beute. Ohnmächtig vor Lust geben sich die Partner der Berührung an so vielen Stellen gleichzeitig hin. „Meine Wünsche werden endlich wahr, Tag der Tage, endlich habe ich dich ergriffen. Dein Körper ist reif und voll, wie wundervoll. Saugen, saugen und nochmals saugen. Nach unserem Meisterstück werd’ ich dich zum Drachenpalast des Seegottes bringen und ewig umklammern“, spricht der Oktopus zu dem Mädchen in dem dazugehörigen Gedicht. Die verstrickte Perlentaucherin, die in einer weiteren, sprachlich noch direkteren Strophe bekennt, bisher für die Männer der Oktopus gewesen zu sein, kann sich der Überwältigung der vielen saugenden Tentakel nicht erwehren.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 9. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 9

No. 9August / September 1998

Von Onno Groß

Onno Groß, Jahrgang 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. In mare No. 8 erläuterte er uns die Vielfalt und Bedeutung der Kleinorganismen zwischen den Sandkörnern unserer Strände. In diesem Heft bringt er uns auch die Biologie der Tintenfische näher (siehe Seite 76)

Mehr Informationen
Vita Onno Groß, Jahrgang 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. In mare No. 8 erläuterte er uns die Vielfalt und Bedeutung der Kleinorganismen zwischen den Sandkörnern unserer Strände. In diesem Heft bringt er uns auch die Biologie der Tintenfische näher (siehe Seite 76)
Person Von Onno Groß
Vita Onno Groß, Jahrgang 1964, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. In mare No. 8 erläuterte er uns die Vielfalt und Bedeutung der Kleinorganismen zwischen den Sandkörnern unserer Strände. In diesem Heft bringt er uns auch die Biologie der Tintenfische näher (siehe Seite 76)
Person Von Onno Groß