Ein verdammt starker Mensch

Das zu Unrecht vergessene Werk des seereisenden französischen Schriftstellers Victor Segalen liest sich heute aktueller denn je

Das Leben des französischen Marinearztes, Schriftstellers und Ethnologen Victor Segalen ließe sich mindestens zweifach erzählen: als Geschichte eines Allroundgenies, auf dessen Schultern spätere Reisende wie Michel Leiris und Bruce Chatwin standen – oder als Saga verpasster Gelegenheiten und tragischen Scheiterns. Segalen, geboren 1878 in der Hafenstadt Brest, wurde nur 41 Jahre alt und starb, körperlich und psychisch geschwächt, bei einem Waldspaziergang am 21. Mai 1919. Einige Jahre später wurde sein Name im Pariser Panthéon eingraviert – als einer der vielen Toten des Ersten Weltkriegs, mort pour la France. Das ist wenig, vergleicht man es mit dem Pomp, mit dem 1996 Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac die Asche des 20 Jahre zuvor verstorbenen Romanciers, Asienreisenden und gaullistischen Kulturministers André Malraux ins Panthéon überführen ließ. Malraux war beinahe doppelt so alt geworden wie Victor Segalen, sein Shanghairoman „La Condition humaine“ wurde zum Welterfolg, während Segalens Bücher kaum Verbreitung fanden oder gar erst nach seinem Tod publiziert wurden.

Und doch, Segalens feinnerviger, quecksilbriger Stil, in deutscher Übersetzung in Hans-Jürgen Heinrichs’ legendärem Qumran-Verlag zugänglich geworden, scheint ungleich gegenwärtiger als Malraux’ längst blechern klingendes Pathos. Hinzu kommt die Frage nach der Authentizität, die gewiss nicht nur Puristen interessiert. Denn obwohl der stets aufs Heroische rekurrierende Malraux insinuierte, mit den kommunistischen Aufständischen in Shanghai 1927 in direktem Kontakt gestanden zu haben, hatte er in Wirklichkeit von China lediglich Hongkong und Macau gesehen, während einer zweitägigen Shoppingtour. Was aber ist dann von einer Panoramaperspektive zu halten, die sich ebenso insiderhaft-detailkennerisch wie streng objektiv gibt, wenn deren Verfasser sein Wissen höchstens aus zweiter Hand bezogen hat?

Als „La Condition humaine“ 1933 erschien, war Segalen bereits 14 Jahre tot. Und erst 2017 erschien, in deutscher Übersetzung des bis dato noch unveröffentlichten Originalmanuskripts, „Ziegel und Schindeln. Eine Reise durch China und Japan 1909/10“. Wie gegenwärtig aber mutet diese Lektüre an! Segalen macht bereits im Titel sein Selbstverständnis deutlich, dass ein Autor seine Texte wie Ziegel und Schindeln schichten und bauen müsse und dies nicht zugunsten eines behaupteten „Objektivitätsprinzips“ verleugnen dürfe. Als wäre er unser Zeitgenosse – und gleichzeitig denkbar frei von den Rückversicherungsformeln politischer Korrektheit –, weiß er ebenso um das Limitierte der eigenen Perspektive wie um den fragwürdigen Charakter des Genres Reisebericht. „Du, der aus fremden okzidentalen Gegenden zu uns kommt“, so beschreibt sich der eigensinnige Segalen aus dem Blickwinkel von Chinesen, über die er gleichwohl nichts Summarisches von sich gibt und stattdessen eine typisch westliche Übergriffigkeit verspottet: „,Ganz China auf dreihundert Seiten‘ … Übertragen wir diese Titel auf Europa & und lassen wir uns ihre vollkommene Lächerlichkeit auf der Zunge zergehen!“

Segalen bevorzugt dagegen ein auf knappe Notate reduziertes Schreiben, das dennoch voller Assoziationsfreude ist. Als Verknüpfungskompetenz bezeichnet die moderne Soziologie solche Qualitäten, doch bei ihm, dem reisenden Ethnologenpoeten, der sich nicht um die Trennlinien zwischen den „Fachbereichen“ schert, kommt noch etwas hinzu. Denn wie singulär ist der Stil, sensualistisch und voller Alltagsbeobachtungen, mit einem feinen Sinn für Selbstironie und ohne besserwisserischen enzyklopädi- schen Anspruch?

Eine Prosa, ebenso konkret wie nervös auf erkenntnisfördernde Weise: „Macao. Anderes als nur Chinesisches oder Englisches. Das Echo großer Reisen … Blaue & heitere Häuser, selbst in der Himmelsbläue, die sie fortsetzen … Gelbe Häuser im Einklang mit der milden & sonntäglichen Sonne … (Ein unenglischer Sonntag.) Eine Geschichte, wie sie Hauptstädte niemals erfahren werden. Aufeinanderprallen von Völkern. Okzident & äußerste Levante. Doch wie sehr dies nur noch Abglanz ist! Der Hafen versandet, die Schiffsschrauben drehen sich im Schlamm & der abenteuerliche Jahrhunderte währende Handel – Seidenstoffe & Opium – ist nur noch Schmierentheater und schleichender Ruin. Macao hat sich verschlissen wie seine Herren, & aus Luís Camões, dem heroischen Epos-Einäugigen, wurde Rudyard Kipling mit seinen kurzsichtigen Augen, der den Nobelpreis erhielt.“

Verblüffend, was dieser Autor alles wahrnahm – sogar für die Notentranskription chinesischer Fischerlieder blieb ihm Zeit und Aufmerksamkeit. Dass er dann 1911 als Mediziner in Shanghai die Quarantäne mitorganisiert hatte, um ein Vordringen der Mandschurischen Pest zu verhindern, erwähnt er hingegen höchstens beiläufig in seinen Briefen.


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mare No. 135

No. 135August / September 2019

Von Marko Martin

Marko Martin, geboren 1970, lebt als Schriftsteller und Autor in Berlin. Soeben erschien sein literarisches Tagebuch Das Haus in Habana. Ein Rapport im Wehrhahn Verlag. Zuletzt schrieb Martin in mare No. 134 ein Porträt seiner zweiten Wahlheimatstadt Tel Aviv.

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Vita Marko Martin, geboren 1970, lebt als Schriftsteller und Autor in Berlin. Soeben erschien sein literarisches Tagebuch Das Haus in Habana. Ein Rapport im Wehrhahn Verlag. Zuletzt schrieb Martin in mare No. 134 ein Porträt seiner zweiten Wahlheimatstadt Tel Aviv.
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Vita Marko Martin, geboren 1970, lebt als Schriftsteller und Autor in Berlin. Soeben erschien sein literarisches Tagebuch Das Haus in Habana. Ein Rapport im Wehrhahn Verlag. Zuletzt schrieb Martin in mare No. 134 ein Porträt seiner zweiten Wahlheimatstadt Tel Aviv.
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