Die wollten segeln als Matros...

Von Frauen, die sich in vergangenen Jahrhunderten verkleideten, um als Seemann anzuheuern

Die Hängematte schaukelt noch. Oben trampeln die Männer mit schweren Stiefeln über die Planken. Einer schlägt die Trommel. Raue Stimmen tragen die Fetzen eines Liedes unter Deck. Die Gedanken werden leicht. Die Hektik der Stadt zieht mit jeder Strophe weiter weg. Die Melodie trägt zurück in alte Zeiten. In das Jahr 1749 vielleicht, als der Dreimaster „Amsterdam“ frei war und nicht als Museumsschiff angekettet lag im Hafen der Stadt, die ihm den Namen lieh. Hier könnte die Geschichte gespielt haben.

Nennen wir sie Tieneke Tries. Wir können uns ausdenken, dass sie Hosen trug und im Frühjahr 1749 unter dem Namen Hans van der Veere auf der „Amsterdam“ angeheuert hat. Nehmen wir an, Tieneke ist es, die jetzt hier in der Hängematte liegt und sich von den Wellen sanft schaukeln lässt. Nehmen wir an, sie schläft, denn die letzte Wache war hart.

Tieneke ist nicht erfunden, zumindest nicht ganz. Sie ist zusammengesetzt aus Mareyken Blomme und Maritgen Jans, Vrouwtje Frans und Adriana La Noy, Jannetje Pieters und Francijntje van Lint und all den anderen Frauen, deren Spuren die Wissenschaftler in den niederländischen Archiven fanden: Frauen, die im 17. und 18. Jahrhundert mit den Schiffen der Vereinigten Ostindischen Compagnie und der West-Indischen Compagnie in See stachen. Im Zuge einer umfassenden Studie über Frauen in Männerkleidern haben Rudolf Dekker und Lotte van de Pol diese Spuren zusammengetragen. Die beiden Wissenschaftler haben für die Niederlande 67 Fälle dokumentiert, in denen akten-kundig wurde, dass Frauen als Männer verkleidet zur See fuhren. Auch aus England, Dänemark, Spanien und Italien gibt es Belege dafür, dass Frauen als Seeleute anheuerten – allerdings nirgends so zahlreich wie aus den Niederlanden. Die Wissenschaftler vermuten, dass die Zahl in Wahrheit noch viel höher liegt. Nur ein Teil der Frauen – jene nämlich, die enttarnt wurden – ist aktenkundig geworden, und nur ein Teil der Gerichtsakten und Logbücher, Reiseberichte und Stadtarchive ist ausgewertet. Doch bildet das bislang gefundene Material eine gesicherte historische Basis, auf die wir zurückgreifen können. Das Interesse der Wissenschaftler ist allerdings sozialgeschichtlich-anthropologisch begründet. Unseres ist, ein Bild zu gewinnen vom Leben dieser Frauen auf See. Von keiner von ihnen ist mehr überliefert als ein paar Details. Deshalb sei der Kunstgriff gestattet, die Puzzleteile zusammenzusetzen und eine wie Tieneke Tries zu entwerfen.

Tieneke Tries also. Aus Emden könnte sie sein. Wie so viele, hat sie das Geld in die Niederlande gelockt. Die Provinz Holland und vor allem die Stadt Amsterdam standen in dem Ruf, dass man hier gutes Geld machen könne. Bis hinauf nach Jütland und herüber nach Westfalen hatte sich herumgesprochen, dass die Kolonialherren und Handelshäuser Wohlstand in die Provinzen brachten, und viele Tausende aus ganz Nordeuropa zogen als Gastarbeiter hierher. Darunter waren erstaunlich viele alleinstehende Frauen, die den Weg von Hamburg oder Emden ins Glück wagten. Sie bewarben sich als Dienstmädchen. Doch sie landeten oft als miserabel bezahlte Arbeiterinnen in der Textilfabrikation. Nehmen wir mal an, auch Tieneke saß am Spinnrad, und ihr Lohn reichte kaum für das Essen. Kein Wunder, dass sie weg wollte.

Vielleicht hatte sie sich auch verliebt. Befragt, warum sie das Abenteuer wagten, nannten viele Matrosinnen diesen Grund. Wir denken uns also in Tienekes Herz einen wunderhübschen Kerl. Sie hatte kaum Zeit gehabt, ihn richtig zu genießen. Als sie sich das erste Mal trafen, hatte er seinen Vertrag schon unterschrieben: fünf Jahre bei der Vereinigten Ostindischen Compagnie, die Überfahrt nach Asien exklusive. Das war so üblich, weniger ging nicht. Und dann war er gefahren, und sie blieb zurück. War sie von zu Hause aufgebrochen, um hier am Spinnrad zu versauern? Nein! Tieneke Tries wollte weg. Ihm hinterher, denken wir mal. Legale Passagen nach Asien waren für Frauen ihres Standes nicht zu buchen.

Damals kursierte unter den Seeleuten am Hafen ein Liedchen. Das ging ungefähr so: „Da war jüngst ein Mädchen los/Das wollte fahren, /das wollte fahren, /da war jüngst ein Mädchen los/Das wollte fahren als Matros’.“ Und in der nächsten Strophe schon heuert das Mädchen tatsächlich an. Aber sie schafft es nicht, die Segel richtig zu setzen. Sie soll bestraft werden.

Um sich zu retten, enthüllt sie, dass sie ein Mädchen ist, und bietet sich dem Kapitän als Geliebte an. Dieses Lied übrigens singen Kinder in den Niederlanden noch heute. Tieneke hatte es vielleicht von den Seeleuten gehört und jemanden gefragt, ob die Geschichte denn wahr sei. Zur Antwort wurden ihr die phantastischsten Erzählungen präsentiert. Eine davon war 1720 sogar gedruckt erschienen: „Die tapfere Heldin zu Land und zu See“ hieß das Buch. Es war der Bericht eines gewissen Hendrik van den Berg, der in Wahrheit eine Frau war, die erst als Soldat, dann als Matrose kämpfte. Das Motiv der Verkleidung war also zu der Zeit nicht fremd: Auch in Romanen, auf Drucken, in Schauspielen und Opern war es beliebt. Die Idee, als Matrose zu heuern, war von daher nicht originell. Aber sie war gefährlich.

In der Praxis nämlich war es Frauen verboten, Männerkleider zu tragen. In der Bibel – und die war im streng kalvinistischen Holland so gut wie Gesetz – heißt es: „Keine Frau darf männliche Kleidungsstücke tragen, und kein Mann darf ein Frauengewand anziehen. Denn jeder, der solches tut, ist Jahwe, deinem Gotte, ein Greuel.“ (Deuteronomium 22,5). Allerdings sind Gerichtsurteile in dieser Angelegenheit bislang nur aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannt – also aus der Zeit kurz nach Tienekes Abenteuer. Wie solche Fälle 1749 gehandhabt wurden, wissen wir nicht. Aber Tieneke konnte Strafe ja ohnehin nicht abschrecken. Also los.

Zunächst einmal stecken wir unsere Heldin in passende Kleidung. Zur Modenschau müssen wir die „Amsterdam“ kurz verlassen und die paar Schritte zum Niederländischen Schiffahrtsmuseum laufen. Prächtige Gemälde sind dort zu finden. Zeugnisse vom Leben der Matrosen dagegen sind rar. „Vom einfachen Schiffsvolk, den Erniedrigten und Beleidigten, sind uns keine Briefe und Portraits geblieben“, haben die Museumsmacher lapidar unter die Überschrift „Besatzung“ geschrieben. Immerhin können sie ein paar Stücke der Ausrüstung präsentieren: die Scheide eines Matrosenmessers, eine Schuhsohle, eine Tabakspfeife aus der Stadt Gouda. Die können wir Tieneke schon mal geben.

Weiter helfen uns Randfiguren aus anderen Zusammenhängen. So klettern auf einem Gemälde von Abraham Storck drei kräftige Matrosen in die Wanten der Fregatte „Pieter en Paul“. Sie tragen flache Schuhe, Strümpfe oder Stulpen, eine flatternde Hose bis zum Knie und darüber eine bauschige Jacke, die mit einem Gürtel um die Taille geschnürt ist. Auch der Kopf ist bedeckt. Gesichter sind unter den dicken Hüten kaum zu sehen. Das könnte wohl passen.

Ein zweites Gemälde sei noch erwähnt. Es ist von Johannes Stock und zeigt das Einschiffen der Matrosen beim Montelbaans-Turm. Nehmen wir an, Tieneke hätte ihre Garderobe gefunden. Vielleicht ist sie der Kerl da rechts? Ein wenig erbärmlich steht er da, die Schultern vornübergeneigt, und wartet, während andere noch die Liebste trösten. Die „Compagnie“ war straff organisiert. An bestimmten Tagen des Jahres stellte sie neue „Mitarbeiter“ ein. Dazu bediente sie sich spezieller Agenten, die in der Stadt die Trommel rührten und anwarben, wen sie finden konnten. Attraktiv war die Arbeit nicht: Sie war schlecht bezahlt, und die Verträge liefen viel länger als üblich. Entsprechend waren die Kandidaten: „Muffel, Furzer, Schwindler“, urteilte ein Augenzeuge. Gut eine Million Menschen brauchte die VOC in den rund 200 Jahren ihres Bestehens. Der Anteil der Ausländer war enorm.

Die Agenten hatten ein raffiniertes System entwickelt, ihre Beute zu locken: Sie boten für die Zeit bis zur nächsten Abfahrt ein Dach über dem Kopf und Mahlzeiten an, streckten oft sogar das Geld für Takelmesser und neue Schuhe vor – und ließen sich im Gegenzug einen Schuldschein ausstellen. Die Compagnie zahlte den Agenten diesen Vorschuss dann zurück – aber erst, wenn der Seemann das Geld auch tatsächlich verdient hatte. Denn es konnte ja sein, dass er zuvor schon das Zeitliche segnete (fast die Hälfte der Matrosen kehrte nicht in die Heimat zurück). Übrigens blühte der Handel mit diesen Schuldscheinen als eine Art Risiko-Kapital-Geschäft. „Seelenverkäufer“ nannte man diese Agenten deshalb auch.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 4. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Cornelia Gerlach

Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Reisereportagen und Portraits und ist selber begeisterte Seglerin.

Mehr Informationen
Vita Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Reisereportagen und Portraits und ist selber begeisterte Seglerin.
Person Von Cornelia Gerlach
Vita Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Reisereportagen und Portraits und ist selber begeisterte Seglerin.
Person Von Cornelia Gerlach