Die Südsee, eine ferne Erinnerung

Als arrivierter Altkünstler entschied sich Matisse zu einer ­Reise, die ihn nach Tahiti führte

Man hat, wenn man im sechsten Lebensjahrzehnt angekommen ist, seinen Platz und hat seine lieben Gewohnheiten, verbringt den Sommer in Nizza und den Winter in Paris, und mehr Veränderung muss nicht mehr sein. Nur die Träume halten nie still. „Während ich seit vierzig Jahren in Licht und Raum Europas arbeitete“, erzählte der Maler Henri Matisse seinem Kritiker und Verleger Tériade, „träumte ich immer von anderen Proportionen, die vielleicht in der anderen Hemisphäre zu finden waren.“ Aber das war viel später, als alles schon vorbei und er längst wieder zurück war von der großen Reise, die es dann einmal gegeben hat.

Damals, im Spätwinter 1930, überkam Matisse eine seltsame Unruhe. Ende Februar waren die Koffer gepackt. „Ich wollte, ich wäre schon zurück“, hatte er ein paar Schnösel im Ruderclub angeblafft. „Sie konnten nicht verstehen, dass Reisen mir genauso lästig ist wie ein Medikament, das mir guttut.“ Und, wie um beide zu retten, die probate Bodenständigkeit und die ungewohnte Unrast: „Ich bin ein häuslicher Reisender, bin oft in der Fantasie gereist, und da das Hauptziel meiner Arbeit die Klarheit des Lichtes ist, habe ich mich gefragt: Wie sieht es wohl in der anderen Hemisphäre aus?“

Fragt sich’s und bricht auf in die andere Hemisphäre. An Bord der „Île-de-France“ trifft er einen Kollegen aus der Akademiezeit, was als gutes Vorzeichen gilt. Die ersten Märztage verbringt er in New York, fährt mit dem Zug weiter nach Chicago, durchquert die Wüste, bleibt zwei Tage in Los Angeles, schifft sich in San Francisco auf der „Tahiti“ ein, erreicht am 29. März Papeete.

Und die Stimmung steigt. Schon der Umweg über die großen fremden Städte hat sich gelohnt. „Meine Reiseroute ist ausgezeichnet – ich fahre zu den trägen Primitiven, fange aber zunächst mit den aktiven Primitiven an.“ Vom Börsenkrach an der Wall Street, der im Jahr zuvor die Weltwirtschaft erschüttert hatte, war offensichtlich nichts zu spüren. Broadway: „höllisch und abscheulich“. Harlem: „Negerhölle“. Matisse geht ins Museum, besucht den Zoo, zeichnet einen Jaguar, im Aquarium einen Hai. Und doch: „Seit ich in New York bin, fühle ich mich zwanzig Jahre jünger.“

Als gefühlter Vierziger kommt der Maler schließlich auf Tahiti an. „Ich finde alles wunderbar – Landschaft, Bäume, Blumen und Leute …“ Später denkt er an ein Mitbringsel: „Wenn ich nicht so besonnen wäre, würde ich versuchen, ein Mädchen von Pomotou mit nach Hause zu nehmen – aber ich wüsste nicht, was ich mit ihr machen sollte … Das wäre das gleiche, als wenn man eine Kuh in ein Interieur stellte. Gewiss könnte man den Rahmen erfinden, aber dann kann man ja auch anhand seiner Studienzeichnungen die Frau gleich miterfinden.“

Verwegene Fantasie: Matisse wieder daheim in seinem südfranzösischen Atelier, Jackett, Krawatte, hochgeschlossen wie immer, darüber der weiße Mantel, das leere Blatt vor sich und das nackte Mädchen aus Polynesien, das die Augen niederschlägt. Man kann doch von Glück sagen, dass der Maler so besonnen war und es bei der Studienzeichnung belassen hat. Dass sie besonders erfinderisch ausgefallen wäre, lässt sich nicht behaupten. „Frau von Tahiti“, Feder, 28 mal 38 Zentimeter. Liegt auf dem Diwan, der ebenso in einem Zimmer in Nizza stehen könnte. Auch sonst ist der raschen, ein wenig linienunsicheren Zeichnung ihre Herkunft nicht unbedingt anzusehen. Ebenso wenig wie dem Angler, der seiner unaufgeregten Beschäftigung auch in der Bretagne nachgehen könnte. Allein das Auslegerboot, neben dem er steht, verrät den Ort und die Zeit der Skizze.

Jedenfalls ist es nicht viel und schon gar nichts exotisch Aufregendes, was Matisse mitgebracht hat. Bevor er Anfang Juli seine Kabine auf der „Ville de Verdun“ bezieht und über Panama, Martinique und Guadeloupe nach 46 Tagen Seereise in Marseille wieder an Land geht, hat er noch ein rasches Fazit gezogen: „Ich habe zu arbeiten versucht, aber das gelingt nicht. Dieses Land ist stinklangweilig, immer das gleiche, außer von Zeit zu Zeit. Fast jeden Tag gibt es etwas Außerordentliches, aber davon träumt man besser – doch bin ich hier.“

So ist es eben mit dem Dort-sein-Wollen und dem Hier-sein-Müssen, mit den Traumreisen, die doch allen Fernreisen überlegen sind. Was die unmittelbare künstlerische Ausbeute anbelangt, erwies sich der Aufbruch in die andere Hemisphäre als Flop. Ganz anders als bei Gauguin, der in der Südsee zu malen begann, wie er nie zuvor gemalt hatte, anders auch als bei Emil Nolde, der sich von der „Tropensonne“ und den „Eingeborenen am Strand“, von „Tanzenden Mädchen“ und „Neu-Guinea-Wilden“ zu ein paar farbheftigen Bildern hat anregen lassen, haben die Wochen und Monate auf den stinklangweiligen Inseln das Werkverzeichnis des Henri Matisse nicht gerade bereichert. Noch auf dem Schiff schickt er dem Malerfreund Bonnard eine Depesche, die sich wie eine Gewinnwarnung liest: „Guter Aufenthalt, gut ausgeruht. Habe alles mögliche gesehen. Werde Ihnen das erzählen. Habe 20 Tage auf einer Koralleninsel gelebt; reines Licht, reine Luft, reine Farbe: Diamant Saphir Smaragd Türkis. Erstaunliche Fische. Habe absolut nichts gemacht, außer schlechten Fotos.“


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mare No. 106

No. 106Oktober / November 2014

Von Hans-Joachim Müller

Hans-Joachim Müller, Jahrgang 1947, war langjähriger Mitarbeiter der Zeit und Feuilletonchef der Basler Zeitung. Er hat zahlreiche Bücher zur Kunst des 20. Jahrhunderts geschrieben, lebt in Freiburg und in Süditalien, segelt, war aber noch nie auf Tahiti.

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Vita Hans-Joachim Müller, Jahrgang 1947, war langjähriger Mitarbeiter der Zeit und Feuilletonchef der Basler Zeitung. Er hat zahlreiche Bücher zur Kunst des 20. Jahrhunderts geschrieben, lebt in Freiburg und in Süditalien, segelt, war aber noch nie auf Tahiti.
Person Von Hans-Joachim Müller
Vita Hans-Joachim Müller, Jahrgang 1947, war langjähriger Mitarbeiter der Zeit und Feuilletonchef der Basler Zeitung. Er hat zahlreiche Bücher zur Kunst des 20. Jahrhunderts geschrieben, lebt in Freiburg und in Süditalien, segelt, war aber noch nie auf Tahiti.
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