Die Riesen aus dem Alpenland

Eine Reportage über die größten Schiffsmotoren der Welt: die Sulzer-Diesel aus Winterthur

Triumphales pathos: das vollbeladene Containerschiff durchpflügt die schäumende See, schiebt eine gewaltige Bugwelle vor sich her. Zehntausende Tonnen Stahl, eine geschweißte Masse, die alles, was zu Lande verkehrt, in den Schatten stellt. Das Bild ist von archetypischer Monumentalität – ewiger Kampf des Menschen gegen die Naturgewalt. Der Stimme aus dem Lautsprecher ist klar, wer diesen Kampf gewinnt. Kurzes Klicken. Der Diaprojektor rattert leise, nächstes Bild. Ein grünes, klobiges Etwas erscheint auf der Leinwand. Auf seinem Rücken ragen Säulen auf, die an Hydranten erinnern. Das Zahnrad am einen Ende des Blocks wirkt wie das Aufziehrad eines Kinderspielzeugs. Ein Motor, erklärt die Lautsprecherstimme, ein Dieselmotor mit 80000 PS Leistung. Das also ist das wellenbrechende Powerpaket im Inneren des Containerschiffs.

80000 Pferdestärken in einen einzigen Antrieb gepfercht. Die Multimediashow, mit der das Unternehmen New Sulzer Diesel im schweizerischen Winterthur Besucher in die Welt seiner Dieselmotoren einführt, vermittelt das Wichtigste nicht: die ungeheuren Dimensionen dieser Schiffsantriebe, die seit Generationen in der Stadt unweit der Finanz- und Wirtschaftsmetropole Zürich entworfen werden. Immer wieder stellen die Motoren Leistungs- und Größenrekorde auf.

Um die Abmessungen eines Sulzer-Aggregats mit den Sinnen zu erfassen, muss man sich Zugang zum Testgelände der Firma verschaffen. In zwei Hallen gleich neben dem Ausbildungszentrum, wo Techniker aus allen Kontinenten Kurse absolvieren, stehen sie: ein Viertakter, der Luxusliner und schnelle Fähren durch die Wellen schiebt – und eben ein Zweitakt-Dieselmotor, das Arbeitspferd, für das Sulzer berühmt ist und das auf den meisten Frachtschiffen verwendet wird. Der Zweitakter nimmt sich im Ruhezustand aus wie ein schlafender Dinosaurier. Einmal angeworfen, stampft er dröhnend. Gewaltige Explosionen in seinen baumstammdicken Zylindern pressen die Kolben zwei Meter hinauf und hinab. Verglichen mit einem Automotor dreht sich die Antriebswelle im Schneckentempo, dafür aber mit unübertroffener Stärke.

1898 lief der erste in Winterthur gebaute Dieselmotor an, der Beginn einer Legende. Der clever ausgehandelte Lizenzvertrag mit dem Erfinder Rudolf Diesel sicherte Sulzer das weltweite Verkaufsrecht des neuen Motorentyps, und so dauerte es nur 14 Jahre, bis das erste Hochseeschiff mit einer Sulzer-Maschine in See stach. Es war die „Monte Penedo“ der Hamburg-Süd-Linie. Die beiden Antriebsblöcke erzeugten zusammen 1700 PS. Seit 1898 sind rund 37000 Sulzer-Diesel gebaut worden. Ihre Leistung zusammengezählt ergibt 158 Millionen PS, genug, um sämtliche Schweizer Fahrzeuge anzutreiben.

Johann Jakob Sulzer, der den Deal mit Diesel arrangierte, entstammte einer Industriellenfamilie mit gründerväterlichem Elan. Die Dampfmaschinen der Sulzers trugen seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Teil zur Industrialisierung der Schweiz bei und warteten mit damaligen Superlativen auf: Sie erbrachten bis zu 6000 PS und bewegten Webmaschinen, Dampfer und vor allem auch Lokomotiven, denn die Epoche der Dampfmaschinen war die Epoche des Aufbaus des Schweizer Eisenbahnnetzes und damit der radikalen Erschließung der Alpenwelt

Die große Zeit der Dieselmotoren fällt zusammen mit dem Umbau der Schweizer Gebirgslandschaft in eine wirtschaftliche Ressourcenquelle. Staudämme entstanden, deren Turbinenenergie mit einem feinmaschigen Gewebe von Hochspannungsleitungen über das ganze Land verteilt wurde. Das Polytechnikum, die heutige Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), war die Gralsburg, in der nicht nur das Wissen, sondern auch das Bewusstsein der Überlegenheit des homo faber über die Natur gepflegt wurde. Die Ingenieure stellten der Gewalt eines Gebirgsmassivs die Gewalt eines felsengleichen Motors entgegen, der auch in der Lage sein sollte, Wellenbergen zu trotzen. Der Ingenieur wurde zum Sinnbild des Schweizers – und die Motoren von Sulzer zu einem Stück Schweiz in der Welt. Sie galten als präzise und zuverlässig, so robust und genügsam wie eben der klassische homo alpinus helveticus.

Doch das alles bewahrte die Schweizer Maschinenindustrie nicht vor der Krise. In den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts erschütterte sie andere Winterthurer Maschinenhersteller wie Rieter oder Brown Boveri in ihren Grundfesten. Die Globalisierung der Wirtschaftsräume machte auch vor dem Großen Sankt Bernhard und dem Matterhorn nicht halt: Der traditionsreiche Hersteller wurde 1997 von einem finnisch-italienischen Konzern übernommen. Sulzer blieb zwar bei seinen Dieselmotoren und konnte seine Stellung im internationalen Markt bewahren. Doch nur dank Umstrukturierung und letztlich für den Preis der Selbständigkeit überlebte der Betrieb. Wärtsilä NSD heißt das Unternehmen jetzt, NSD für New Sulzer Diesel. Trotz Amerikanismus im Firmennamen – die NSD-Zentrale residiert weiterhin in Zürich, und Winterthur ist nach wie vor das Zentrum für Forschung und Entwicklung von Zweitakt-Schiffsmotoren.

Auch wenn die Produktion von Bauteilen in Winterthur endgültig eingestellt wurde, läuft die Konstruktion der Stahlkolosse dort auf Hochtouren – nahezu geräuschlos. In den abgeschatteten Büros im 17. Stock des Sulzer-Hochhauses summen die Computer leise vor sich hin. Der Blick aus dem Fenster gleitet über eine urbane Landschaft, aus der die Spuren der einst bedeutenden Schweizer Maschinenindustrie weitgehend getilgt sind. Reißbretter, Risszeichnungen und Modelle sind heutzutage digitalen Simulationen gewichen. An einem Desktop-Bildschirm sitzt Hanspeter Kern, klein, schütter, konzentriert. Hinter einer Hornbrille verfolgen seine Augen aufmerksam die Striche, die er per Mausklick auf dem Schirm zieht.

Grüne, gelbe und violette Linien ergeben zusammen die Umrisse eines dreidimensionalen Gebildes, das wie das Schema eines Science-fiction-Raumschiffes vor dem schwarzen Bildhintergrund schwebt. Wer heute Motoren entwickelt, erlebt die Kraftprotze vor allem virtuell.

„Die Grundplatte von einem RTA96“, murmelt Kern bedeutungsvoll. RTA96? Der Maschinenzeichner hebt schulmeisterlich den Zeigefinger: „RTA96 steht für einen Motor mit 96 Zentimeter Bohrung, das heißt, so groß ist sein Zylinderdurchmesser. Zwölf solcher Zylinder bringen 90000 PS“ – so viel wie ein paar hundert Porsches oder Ferraris zusammen. Im RTA96 könnte ein halbes Dutzend Familien bequem wohnen, denn das 2000 Tonnen schwere Ungetüm besitzt das Format eines dreistöckigen Wohnhauses: 23 Meter lang, 13 Meter hoch, fünf Meter breit. Kern gerät ins Schwärmen: „Der RTA96 ist der größte und stärkste Schiffsmotor der Welt, und wir haben ihn gebaut.“ Gesehen aber hat Kern ihn noch nie.

Der Zeichner arbeitet seit über 20 Jahren bei Sulzer. Sein Vater hat in Winterthur noch Dieselmotoren zusammengesetzt. Zu Hause besitzt Kern, der leidenschaftliche Akribiker, eine Sammlung alter Pläne von Sulzer-Motoren. „Ja, wenn die einmal die Firmengeschichte aufschreiben, kommen sie zu mir.“

Firmentreue ist etwas, das die Sulzer-Mitarbeiter auszeichnet, trotz Krise, Fusion und Wechsel in den Führungsspitzen. Doch wohin sollten die Ingenieure und Zeichner sonst auch gehen? Immerhin ist NSD eines von weltweit gerade noch drei Zentren, wo Zweitakter der größten Dimensionen entworfen werden. Und wer einmal mit den maschinellen Hünen zu tun hatte, scheint so leicht nicht mehr von ihnen loszukommen.

Einer, der ebenfalls schon lange dabei ist und die alten Zeiten kennt, ist Ingenieur Herbert Zehnder. Zehnder hat noch Dampfmaschinen und rauchende Schlote in Winterthur erlebt und ist selbst auf Schiffen als Servicemann gefahren, um Antriebe zu warten. Seine Faszination für Motoren verbindet er mit einer Schwäche fürs Meer. Wie ein alter Seebär erzählt er von den Ländern und Menschen, die er auf seinen Fahrten im Auftrag von Sulzer kennengelernt hat. Aus diesen Erfahrungen extrahiert Zehnder auch eine Erklärung dafür, weshalb Sulzer nicht das Schicksal anderer Schweizer Motorenhersteller geteilt hat. „Dass es uns noch gibt, hat mit der Mentalität der Schiffsbauer zu tun“, sagt er. „Das sind konservative Leute.“ Den Anlagen, die zuverlässig und sicher sind, hielten Schiffsbauer die Treue, besonders die Japaner.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 10. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier

Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und Publizist.

Jürg Waldmeier, Jahrgang 1963, ist Fotograf. Beide leben in Zürich und arbeiten regelmäßig zusammen. Für mare berichteten sie zuletzt über das Wal-Essen in Reykjavík (No.9)

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Vita Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und Publizist.

Jürg Waldmeier, Jahrgang 1963, ist Fotograf. Beide leben in Zürich und arbeiten regelmäßig zusammen. Für mare berichteten sie zuletzt über das Wal-Essen in Reykjavík (No.9)
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