Die letzten ihrer Art

Helmtaucher kämpfen sich durch Schlamm und Schlick und bergen Blindgänger im Hamburger Hafen

Am liebsten erzählt Walter Hamm von der guten alten Zeit, als im Hamburger Hafen noch die Hölle los war. „Dreitausend Wracks auf Grund“, dröhnt er und ballt die Faust um seinen Kaffeepott. „Jede Woche drei bis vier abgesoffene Kähne. Havarien am laufenden Meter. Da kam Freude auf.“

Schweigen in der Runde um den Kajüttisch. Die Sonne brütet über dem garagengroßen Wohncontainer, der mittschiffs als Kantine und Ruheraum dient. Wellen plätschern gegen die Bordwand und wiegen die Schute, auf der die letzten Helmtaucher des Hafens dem nächsten Einsatz entgegendösen.

Sie stehen im Ruf, ein verwegener Menschenschlag zu sein, Abenteurer, die sich furchtlos und mit zentnerschwerem Ballast bestückt durch abgrundtiefe Schlammregionen der Elbe kämpfen. Ohne sie, heißt es im Hafen, liefe nichts in den Gewässern in und um Hamburg, keine Fähre, kein Frachter, kein Bagger. Dennoch steht ihr Job auf der Liste aussterbender Berufe.

Von diesem Widerspruch wird noch die Rede sein. Doch im Augenblick herrscht Ruhe an Bord. Fred Müller hängt mit geschlossenen Augen im Stuhl. Udo Paskowski gähnt hinter der Bildzeitung. Nur Walter führt das große Wort. Zwecklos, ihn zu unterbrechen, wenn er in Fahrt kommt. Udo versucht es trotzdem. „Dreitausend Wracks auf Grund?“ fragt er scheinheilig. „Hast eins vergessen, Walter. Dich selbst.“

Ein loses Maul, dieser Spund, mit 38 Jahren jüngstes Mitglied der Truppe, noch nicht mal in den Windeln, als Walter schon regelmäßig in der Elbe abtauchte. Vierzig Dienstjahre hat er jetzt auf dem Buckel, die Autorität an Bord und deshalb meistens im Recht.

„Passiert doch nichts mehr“, böllert er weiter. „Früher, da kochte im Hafen das Wasser von tausend Barkassen, Schleppern und Frachtern. Sieh’s dir heute an: nur noch tote Hose, selbst hier im Reiherstieg.“

Tote Hose? Sprechen so Männer, die im Ruf stehen, die letzten Haudegen des Hamburger Hafens zu sein? Helden gar, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sie Bomben aus den trüben Tiefen der Elbe fischen? Doch große Worte sind in dieser Runde nicht angesagt. Selbst Udo, der die Taucherei in den Hoheitsgewässern der ehemaligen DDR erlernte, spart sie sich, wenn er das Husarenstück seiner Republikflucht schildert. War ja eher ein Glücksfall, weil man auf einer Fahrt von Warnemünde nach Wismar den Geburtstag des Kapitäns feierte. Als alle Mann besoffen in den Kojen lagen, hielt Udo das Schiff stur auf Westkurs und landete wie durch ein Wunder unbehelligt im goldenen Westen.

Na ja, so golden auch wieder nicht bei einem Stundenlohn von 27 Mark, der sich auf 34 Mark erhöht, wenn man unter Wasser arbeitet. Lohnt es sich, dafür Kopf und Kragen zu riskieren? Wie zur Bestätigung schiebt Walter ein Foto zwischen Thermoskanne und Tassen über den Tisch: Es zeigt ihn breit grinsend neben einem Mordsding von Bombe, „so groß wie’n alter Badeofen, fast ’ne Tonne schwer. Ganz schöner Kaventsmann, nöch?“

Auch wenn sie nur selten solche Kaliber aufstöbern, die Bilanz der Erblast, die sie mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende auftischen, klingt erschreckend: 100700 Bomben hagelten im Zweiten Weltkrieg auf Hamburg herab. Ein Großteil explodierte im Hafen, wo Fracht- und Kriegsschiffe an kilometerlangen Kais vor Anker lagen, auf Werften wie Blohm + Voss gebaut oder repariert wurden. Da ungefähr jede achte Granate krepierte, spickten Tausende von Blindgängern das Areal der Hansestadt. „So um die zweieinhalbtausend haben wir inzwischen geborgen“, sagt Uwe Inselmann, Experte im Dienst einer Spezialeinheit der Berufsfeuerwehr, die den zeilensprengenden Namen „Kampfmittelräumdienst“ trägt. „Aber ungefähr die gleiche Menge steckt noch irgendwo im Untergrund des Hafens.“

Es sind zum Glück nur selten solche Kaliber wie das aus Walters Familienalbum. Doch auch kleinere Exemplare können Verheerungen anrichten. „Als wir zur Probe eine Stabgranate von zwei Zentimetern Durchmesser im Kofferraum eines ausrangierten Peterwagens zündeten“, berichtet Uwe Inselmann, „schlug die Feuerwalze bis zur Kühlerhaube durch.“

Die Fundstücke kommen in der Regel als Rostbrocken an Bord, wo er sie in Sand bettet und behutsam entkernt. Die meisten entpuppen sich als Stahlbolzen, und einmal legte er sogar einen eisernen Tannenzapfen frei, der offenbar einer alten Standuhr entstammte. „Doch egal, was mir die Jungs hochbringen, im nächsten Moment seh’ ich nur noch ihre Hacken, wenn sie in die Barkasse springen. Danach bin ich im Umkreis von fünfhundert Metern der einsamste Mensch im Hafen.“

Wird er auch heute wieder hier am Reiherstieg sein? „Mal sehen“, sagt er seelenruhig, die Hände auf die Reeling gestützt, den Blick aus blauen Augen auf das Ortungsschiff gerichtet, das neben der Schute im Brackwasser dümpelt und soeben ein verdächtiges Stück gemeldet hat. „Orti“ nennen die Taucher den knapp zehn Meter langen Katamaran, der, von zweihundert Meter langen, an festverankerten Bojen vertäuten Stahlseilen geführt, seine Bahnen zieht und zwischen den Schwimmkufen einen Detektor durchs Wasser schleppt. „Otter“ heißt das torpedoförmige Ding, zwei Meter lang und schwer wie ein Klavier. „Die ortet noch in 20 Meter Tiefe jedes Stück Metall, vom Blindgänger bis zum Kronenkorken“, schwärmt Uwe Inselmann.

„Die kann sogar tanzen“, ergänzt Walter, der seinen breiten Brustkasten für den ersten Einsatz des Tages in den Taucheranzug zwängt. „Wenn irgendein Idiot sein Schiff mit Volldampf an uns vorbeiheizt, fängt sie an, im Wellengang zu schwingen. Falls du grad’ unter ihr bist, kann sie dich tothauen.“

Die Gefahr droht im Augenblick nicht. Ferienstimmung liegt über dem leeren Kanal, der sechs Kilometer lang zwischen Norder- und Süderelbe den Hafen quert. Blanker Himmel, von Möwen gesprenkelt. Windstille. Ebbe. Das ablaufende Wasser hat Schlickränder an die Uferböschung geschmiert. Darüber wuchern Brombeeren, Holunder und Brennesseln bis hinauf zu den fast drei Meter hohen Mauern, die den Kanal an beiden Ufern säumen und die Hafenindustrie bei Sturmfluten gegen Überschwemmungen abschotten.

Kein Schiff in Sicht, kein Mensch weit und breit. Auf der Barkasse, die in Luv der Schute liegt, pinkelt Schiffsführer Gert Holst über die Bordkante, während sich Walter in ein Riesenbaby verwandelt, weil er im Taucheranzug wie in einer großen Strampelhose steckt. Der Eindruck verstärkt sich, als er nur noch tapsige Bewegungen machen kann, nachdem ihm Fred und Udo klumpige Stahlstiefel über die Füße und den mächtigen, verbeulten, ein halbes Jahrhundert alten Messinghelm über den Kopf gestülpt haben. Mit den Gewichten, die sie an Brust und Rücken einklinken, schleppt er um die achtzig Kilo zu der Leiter, die außenbords ins Wasser führt.

Sekunden später blubbern Luftblasen neben dem Ortungsschiff auf, unter dem Walter versunken ist, vierfach verkabelt: mit Spülschlauch und Sicherheitsleine in den Fäusten, Telefonleitung und Luftschlauch am Helm.

„Kann Stunden dauern, bis er wieder auftaucht“, sagt Fred Müller, in der Hand den gummiummantelten Telefonhörer, der gurgelnde Geräusche aus zwölf Metern Tiefe fördert. „Pottduster da unten. Mußt dich rantasten ans Objekt, blind wie ein Maulwurf, und aufpassen wie ein Luchs, daß du nicht im Schlamm versackst. Dauert seine Zeit, bis du dich da mit dem Spülschlauch durchgewurstelt hast.“ Die zwei bis drei Meter dicke Schlammschicht auf dem Grund der Hafenbecken fürchten die Taucher fast mehr als Bomben, die sich darin verstecken können. Selbst ein Veteran wie Fred, seit über dreißig Jahren in Hamburgs Gewässern „auf der Suche nach Wracks, Bomben und ähnlichem Schrott“, spürt vor jedem Einsatz ein Kribbeln. „Der schlimmste Fall tritt ein, wenn du die Ballastschuhe im Schlamm verlierst. Dann wirst du kopflastig, weil dir auf einmal untenrum zwanzig Kilo fehlen, und schießt mit den Füßen voran nach oben, einen Meter aus dem Wasser raus.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 9. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 9

No. 9August / September 1998

Eine Reportage von Erdmann Wingert und Knut Gielen

Erdmann Wingert ist Mitglied der Journalistengemeinschaft Zeitenspiegel. Er lebt in Dithmarschen an der Nordseeküste.

Knut Gielen ist Fotograf der Agentur Plus 49/ Visum. In mare No. 1 veröffentlichten wir seine Fotoreportage über die Atlantiküberquerung der „Queen Elizabeth II“

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Vita Erdmann Wingert ist Mitglied der Journalistengemeinschaft Zeitenspiegel. Er lebt in Dithmarschen an der Nordseeküste.

Knut Gielen ist Fotograf der Agentur Plus 49/ Visum. In mare No. 1 veröffentlichten wir seine Fotoreportage über die Atlantiküberquerung der „Queen Elizabeth II“
Person Eine Reportage von Erdmann Wingert und Knut Gielen
Vita Erdmann Wingert ist Mitglied der Journalistengemeinschaft Zeitenspiegel. Er lebt in Dithmarschen an der Nordseeküste.

Knut Gielen ist Fotograf der Agentur Plus 49/ Visum. In mare No. 1 veröffentlichten wir seine Fotoreportage über die Atlantiküberquerung der „Queen Elizabeth II“
Person Eine Reportage von Erdmann Wingert und Knut Gielen