Der Superfisch

Der Hering machte die Menschen satt und die Hansestädte reich

Vor 1000 Jahren war der Hering in Nordeuropa wichtiger als der Hund, wichtiger als Huhn und Katze, als Rind und Schaf. Denn für die Küstenbewohner von Lübeck bis Norwegen, von Island bis Amsterdam war der Hering das Öl des Mittelalters: ein Rohstoff aus dem Meer, der Kaufleute reich und Städte mächtig machte. Ein Rohstoff, der mit neuen Techniken verarbeitet, exportiert und im Kartell monopolisiert wurde. Ein Rohstoff, der nur scheinbar unerschöpflich, der tatsächlich jedoch endlich war und ganze Regionen in den Kollaps riss, als er versiegte.

Historiker stoßen an ungewöhnlichsten Orten auf den Hering, diesen kleinen Fisch, der Europas Geschichte stärker geprägt hat als die meisten Päpste oder Kaiser. Er findet sich etwa in alten Folianten des Saxo Grammaticus. Dieser geistliche Chronist schrieb um 1200 die „Gesta Danorum“, das älteste Geschichtswerk Dänemarks. Dort liest man diese Beschreibung der Meerenge zwischen Dänemark und Schweden: „Der ganze Sund füllt sich gewöhnlich so mit Fischschwärmen, dass manchmal die Schiffe stecken bleiben und kaum noch mit angestrengtem Rudern herauszubringen sind. Und die Beute wird nicht mit künstlichen Vorrichtungen gefangen, sondern wird ohne Weiteres mit bloßer Hand aus dem Wasser gegriffen.“

Gefunden wird der Hering selbst dort, wo man ihn kaum vermuten würde – in Flandern zum Beispiel. Dort legten Forscher bei Ausgrabungen die Gebeine Tausender Soldaten des Ersten Weltkriegs frei. Doch in den Schichten darunter lagen ganz andere Gebeine: Gräten. Zwei bis drei Millionen Heringe wurden im Mittelalter allein in Flandern jedes Jahr verzehrt, ihre Reste weggeworfen. 300 Fische je Person im Jahr, und das über mehrere Jahrhunderte lang.

Clupea harengus bevölkert in Schwärmen den Nordatlantik von Spitzbergen bis in die Biskaya, von Europas Küsten über Island und Grönland bis an die amerikanische Ostküste. Jahrhundertelang drängten sie im Frühjahr zum Laichen durch Skagerrak und Kattegat in die geschützten Ostseebuchten. Dafür pressten und quälten sich Milliarden Fische durch den Sund. Nie war ein Fisch einfacher zu fangen als dieser. Dem Hering ist deshalb schon in der Steinzeit nachgestellt worden. Sein Name, so eine von vielen Theorien, leitet sich vom deutschen „Heer“ ab, „Haufen, Menge“, der Begriff taucht jedenfalls schon im 10. Jahrhundert in unserer Sprache auf.

Ebenfalls im 10. Jahrhundert, in den Jahren 961/962, bereist der kultivierte arabische Chronist Ibrahim ibn Yaqub al-Tartushi aus al-Andalus Nordeuropa. Dabei erreicht er Schleswig, „eine große Stadt am Ende des Weltenmeeres“. Dort stellt er, der feine Speisen gewohnt ist, missbilligend fest: „Die Hauptnahrung ihrer Bewohner besteht aus Fischen, denn die sind dort zahlreich.“ Und aus Dokumenten des Schweizer Klosters Sankt Gallen geht hervor, dass etwa zu dieser Zeit auch den Mönchen tief im Binnenland Hering aufgetischt wurde. ➣

Der Hering wird also seit alters gefischt und selbst im Inland verspeist, aber offenbar noch recht selten. Al-Tartushi jedenfalls, der immerhin von Spanien quer durch Westeuropa bis an die Ostsee gereist ist, scheint den Hering vor seinem Besuch Schleswigs nicht zu kennen. Bis etwa zum Jahr 1000 ist der Hering ein Fisch, der an den Küsten verzehrt und nur selten in die Ferne verschickt wird.

Als al-Tartushi Schleswig besucht, sind dessen Einwohner allerdings großenteils noch Heiden. Erst zwischen 1000 und 1200 wird Nordeuropa, und damit das Heringsland, christianisiert. Und mit dem neuen Glauben kommen auch neue Speiseregeln. Im Mittelalter wird nicht nur vor Ostern, sondern auch jeden Freitag und zu anderen Gelegenheiten gefastet, etwa 140 Fastentage zählt der Kalender. Was wird an solchen Tagen aufgetischt? Hering.

Mit der Kirche erst wächst die Nachfrage, mit der Kirche wird der Markt europäisch. Bislang fingen die Küstenbewohner für den eigenen Bedarf, ab etwa dem Jahr 1000 explodiert die Nachfrage nach der Fastenspeise im Inland. Heringe werden nun in Regensburg, Nürnberg und Frankfurt gehandelt, gelangen bis in die Toskana und nach Barcelona.


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mare No. 135

No. 135August / September 2019

Von Cay Rademacher

Rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Normen und Warenzeichen, transkontinentaler Handel – Cay Rademacher, geboren 1965, wohnhaft in Südfrankreich in der Nähe des eher heringsarmen Mittelmeers, verblüffte an dieser Geschichte, wie modern der mittelalterliche Heringsfang schon war. Und auch das war, immerhin, seiner Zeit voraus: Frauen arbeiteten auf Schonen in der Heringsverarbeitung, während sie die meisten anderen Hansekontore noch nicht einmal betreten durften.

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Person Von Cay Rademacher
Vita Rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Normen und Warenzeichen, transkontinentaler Handel – Cay Rademacher, geboren 1965, wohnhaft in Südfrankreich in der Nähe des eher heringsarmen Mittelmeers, verblüffte an dieser Geschichte, wie modern der mittelalterliche Heringsfang schon war. Und auch das war, immerhin, seiner Zeit voraus: Frauen arbeiteten auf Schonen in der Heringsverarbeitung, während sie die meisten anderen Hansekontore noch nicht einmal betreten durften.
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