Das verlorene Meer

An jedem 23. März trauert der Andenstaat Bolivien um die Küste, die er einst besaß, und schwört, an den Pazifik zurückzukehren. Bis dahin übt die Marine auf dem Titicacasee

Als er die Asche des toten Helden nahen hörte, prüfte Diego Bonillo Salazar sich und seine Uniform ein letztes Mal, hob sein Gewehr und verbannte jedes Gefühl, so wie er es gelernt hatte. Es fiel ihm schwer. Fahnen flatterten von den Straßenlaternen und warfen springende Schatten, überall flackerte das Licht von Kerzen durch die Nacht, es war Unruhe in der Menge, schon jetzt.

Die Urne kam mit klingendem Spiel. Von Norden her drang das Dröhnen der Trommeln aus der Dunkelheit, Trompeten waren zu hören, Pauken, Hörner, Pfeifen und dazu der stolze Tritt von tausend Stiefeln, die im Gleichschritt auf das Pflaster knallten, es marschierten die ersten beiden Bataillone der Colorados de Bolivia, Infanterieregiment Nr. 1, die Leibgarde des Präsidenten. Sie sangen. Diego Bonillo Salazar stand sogleich Habt-Acht. Sie sangen den Marsch des verlorenen Meeres.

Das Gefühl sprang Diego Bonillo an wie ein Tier. Trommelwirbel rollten über die Plaza Eduardo Avaroa im Herzen von La Paz, der größten Stadt Boliviens, schwollen an wie der Donner eines aufziehenden Gewitters, schon kam die Lafette, geleitet von vier Korvettenkapitänen mit blanken Degen, die nun eine bronzene Schatulle herabhoben, über roten Teppich zu Diego Bonillo trugen und ihm die Asche des toten Helden zu Füßen legten, zu Ehre und Wacht. Da war es Diego Bonillo Salazar, Kadett einer Marine ohne Meer, als spüre er Hitze und Kälte zugleich.

„Es ist ein Gefühl“, sagt Diego Bonillo Salazar, doch schweigt dann, nach Worten suchend. „Ein Gefühl“, sagt er schließlich, „von Trauer und Glück.“ Und sicher sei er, dass alle Kameraden der Armada Boliviana da eins seien, mögen sie am Tag der Tage auf den Flüssen des Amazonasbeckens Dienst tun oder auf denen des Hochlands, am Titicacasee oder auch an der Seite der Asche des Helden Eduardo Avaroa – am Día del Mar, dem Tag des Meeres, fühlten alle Seemänner Boliviens den gleichen Zwiespalt. Die Trauer um das verlorene Meer, im Krieg geraubt vor grauer Zeit, gegen Chile war’s, 1879, seither ist Bolivien Binnenstaat. Aber auch das Glück über Stärke und Stolz der Bolivianer, die heute noch des Meeres gedenken, im 128. Jahr des Verlusts, und an jedem 23. März vor sich und der Welt ihren Willen bekräftigen, zum Pazifik zurückzukehren. „Was einmal unser war, wird eines Tages wieder unser sein“, spricht trotzig Diego Bonillo Salazar, Kadett zur See an der Marinekriegsschule zu La Paz, 3663 Meter über dem Meer, 310 Kilometer bis zur nächsten Küste. Er zählt zu den Alten dort, weil er, 22 Jahre alt, im letzten Jahr der Schufterei steht, die aus Jungen von Stadt und Land Offiziere zur See machen soll. Und weil er das Meer schon einmal sah.

Sein Atem flog, das Blut schlug pochend gegen seine Schläfen, aus den Augenwinkeln sah Diego Bonillo dort die Asche des Helden Eduardo Avaroa stehen, auf roten Samt gebettet, eine Urne in Form eines schmalen Sarges, die Seiten verziert mit aus Bronze gegossenen Lorbeerzweigen. Er verstärkte den Griff seiner Hände, schneeweiße Handschuhe an Schaft und Kolben seines Gewehrs, Marke Mauser, mit aufgepflanztem Bajonett, darf nicht zittern, darf nicht. Er repetierte die Ratschläge der Ausbilder für Ehren-wachen. Trinkt nicht zuvor. Geht Wasser lassen zuvor. Vergesst nicht: Bolivien schaut auf euch.

Aus dem Dunkel der Nacht schoben sich die Menschen in Massen gegen die Absperrungen, das Fernsehen übertrug live, und überall in Bolivien, von den Höhen der Anden bis zum Tiefland des Amazonas, sahen die Menschen zu, wie jedes Jahr, wenn sich das ganze Land in Erinnerung an das verlorene Meer vereint. Es war die Zeit der fünften Wache, die Stunden vor Mitternacht, der Vorabend des Tages der Tage. Auf der Plaza Avaroa standen stramm fünf Seekadetten, starr vor Stolz.

Meeresmonat nennen sie den März im Land. Vom ersten Tag an haben Behörden nicht mehr allein die Fahne der Republik zu hissen, sondern auch den Flor des Meeres, ein blauer Wimpel, Symbol der Erinnerung soll er sein und Zeichen der Zuversicht, der Staat will es so. Und Bolivien beginnt, sich vorzubereiten. Diesen März druckten die Zeitungen die ersten Wellen schon Ende Februar, bald folgten Bilder gischtumspülter Küsten im Fernsehen. In den Schulen setzten die Lehrer die Geschichte des Salpeterkriegs auf den Stundenplan, auf den Straßen verkauften fliegende Händler Gedenkdrucke mit Stichen alter Schlachten, und von den Stützpunkten der sechs Marinedistrikte zogen Offiziere los, um den Kindern Unterricht über das verlorene Meer zu erteilen: den Pazifik und jene 400 Kilometer Küste, die Bolivien früher besessen hatte – 120.000 Quadratkilometer karges Land, doch voller Salpeter und Kupfer. Die Klage war stets gleich, eine Klage im Konjunktiv: Was hätte Bolivien sein können, hätte man es damals nicht des Meeres beraubt und damit des direkten Zugangs zu Seefahrt, Handel, Reichtum? Bolivien, das zwar manche Häfen Perus und Chiles zollfrei nutzen kann, träumt vom Meereszugang wie von einem Wundermittel gegen die Armut des Landes, und wenngleich sich die Beziehungen zu Chile längst gebessert haben, ergeht sich Bolivien vor jedem Día del Mar erneut in der Erinnerung an die alte Feindschaft. Auch dies gehört zu den Vorbereitungen.

Denkmäler wurden geputzt, Straßen ausgebessert, Uniformen gestärkt. Boten der Marine sprachen im Konvent der Minderen Brüder vor, um sich bei den Mönchen, die in der Gruft ihrer Basilika San Francisco außer den Überresten eines halben Dutzends Präsidenten und Generälen auch die Asche Eduardo Avaroas hüten, vom tadellosen Zustand der Urne zu überzeugen. Historiker stritten über die Frage, ob der Held der Helden sich Abaroa oder Avaroa geschrieben habe. Aus allen neun Provinzen kamen Künstler zusammen, um das eigens komponierte Lied Es posible navegar einzusingen, ein Lobpreis auf Sehnsucht und Seefahrt. Da verschlossen sich selbst die Spötter nicht mehr jener seltsam wehmütigen Freude, mit der Bolivien dem Tag des Meeres entgegengeht, und steuerten böse Witze bei, die sogar die sonst schweigsamen Schuhputzerjungen ihren Kunden erzählten und schließlich selbst in den Stützpunkten der Marine die Runde machten.


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mare No. 60

No. 60Februar / März 2007

Von Roland Schulz und Claudine Doury

Roland Schulz, geboren 1976, schreibt als freier Journalist für die Süddeutsche Zeitung. Schon als er nach dem Studium durch Südamerika reiste, fiel ihm am Titicacasee ein Denkmal auf – es stellte den Nationalhelden Eduardo Avaroa dar, der mit großer Geste Richtung Meer wies.

Die mehrfach ausgezeichnete Fotografin Claudine Doury, Jahrgang 1959, ist Mitglied der Pariser Agentur VU und arbeitet für Le Monde, Paris Match und Elle. Auch sie war beeindruckt, mit welcher Poesie und Magie Bolivien die eigene Trauer um das verlorene Meer zelebriert.

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Vita Roland Schulz, geboren 1976, schreibt als freier Journalist für die Süddeutsche Zeitung. Schon als er nach dem Studium durch Südamerika reiste, fiel ihm am Titicacasee ein Denkmal auf – es stellte den Nationalhelden Eduardo Avaroa dar, der mit großer Geste Richtung Meer wies.

Die mehrfach ausgezeichnete Fotografin Claudine Doury, Jahrgang 1959, ist Mitglied der Pariser Agentur VU und arbeitet für Le Monde, Paris Match und Elle. Auch sie war beeindruckt, mit welcher Poesie und Magie Bolivien die eigene Trauer um das verlorene Meer zelebriert.
Person Von Roland Schulz und Claudine Doury
Vita Roland Schulz, geboren 1976, schreibt als freier Journalist für die Süddeutsche Zeitung. Schon als er nach dem Studium durch Südamerika reiste, fiel ihm am Titicacasee ein Denkmal auf – es stellte den Nationalhelden Eduardo Avaroa dar, der mit großer Geste Richtung Meer wies.

Die mehrfach ausgezeichnete Fotografin Claudine Doury, Jahrgang 1959, ist Mitglied der Pariser Agentur VU und arbeitet für Le Monde, Paris Match und Elle. Auch sie war beeindruckt, mit welcher Poesie und Magie Bolivien die eigene Trauer um das verlorene Meer zelebriert.
Person Von Roland Schulz und Claudine Doury