Das große Kräftemessen

Mond und Meeresgrund, Erdrotation und Fliehkraft: Titanische Mächte lassen Wasserberge wandern

„Während der alte Mann sprach, wurde ich auf ein lauter und lauter werdendes Geräusch aufmerksam, das wie das Brüllen einer großen Büffelherde auf einer Prärie Amerikas klang; der Ozean unter uns verwandelte sich im Nu in eine nach Osten strebende Strömung. Während ich sie beobachtete, nahm sie eine rasende Geschwindigkeit an, die sich in nach Norden gerichtetem Ansturm von Augenblick zu Augenblick steigerte. Innerhalb von fünf Minuten war das ganze Meer in nicht zu bändigender Wut aufgepeitscht, aber am schlimmsten tobte es zwischen Moskoe und der Küste. Hier war die weite Wasserfläche in tausend einander bekämpfende Strömungen zerfurcht und zerspalten und zerbarst sozusagen in wahnsinnigen Zuckungen – sich bäumend, kochend und pfeifend –, ein Wirbel unzähliger gigantischer Strudel, und all das kreiselte und stürzte mit einer Geschwindigkeit ostwärts, die das Wasser sonst nur in Steilabstürzen annehmen kann.“
Edgar Allan Poe, „Im Wirbel des Malstroms“, 1841

Die Lofoten sind eine Inselgruppe am Rand der Alten Welt, dort, wo Norwegen fast zu Ende ist. Zwei Mal am Tag öffnet vor der Insel Moskoe der Mahlstrom seinen Furcht erregenden Schlund. Immer wieder geraten Fischkutter in seinen Strudel, werden in einen haltlosen Abgrund gerissen und mit Mann und Maus zwischen scharfkantigen Klippen zu Kleinholz zerraspelt.

Seine überbordende Fantasie ließ Edgar Allan Poe ganze Flotten in dem nimmersatten Wasserwirbel verschwinden. Und Jules Verne nutzte den sagenumwobenen Schauplatz dazu, um zum Ende seiner „20000 Meilen unter dem Meer“ die „Nautilus“ ins Verderben zu schicken. Beide Autoren strickten kräftig mit am Mythos des ungeheuerlichen Mahlstroms.

Die Wirklichkeit sieht anders aus – weniger geheimnisvoll, aber auch weniger gefährlich. Vor Ort entpuppt sich Poes gefräßiger Neer als, zugegeben, sehr kräftige, aber begrenzte Meeresströmung, die zwei Mal täglich für einige Stunden in der vier Kilometer messenden Enge zwischen Lofotodden und Moskoe aufkommt.

Der Grund des Phänomens findet sich am Firmament: Das immerwährende Drehspiel von Sonne, Mond und Erde verursacht die Gezeiten; der Ozeanspiegel hebt und senkt sich alle zwölf Stunden und 25 Minuten. Ist, wie bei den Lofoten, eine Meerenge im Weg, so fließt das auf- und absteigende Wasser deutlich schneller als anderswo.

Gemeinhin gilt allein der Mond als Macher der Gezeiten. Seine Anziehungskraft, so heißt es, zieht die Wassermassen wie ein Magnet gen Himmel. Allerdings lässt sich so nur das eine der beiden Hochwasser erklären, die täglich das Wattenmeer überfluten. Da nämlich der Mond nur ein einziges Mal am Tag über der Nordsee steht, sollte er folglich nur einen Flutberg aus dem Meer heben. Das Vormittagshochwasser wäre zwar erklärt, nicht aber die Nachmittagsflut.

Deren Existenz wird erst plausibel, wenn man eine weitere Kraft auf den Plan treten lässt: die Zentrifugalkraft. Denn wirkte zwischen Erde und Mond allein die Gravitation, so würden die Himmelskörper haltlos aufeinander stürzen. Diese planetare Katastrophe wird allein durch die Fliehkraft verhindert. Will die Massenanziehung den Mond auf die Erde stürzen lassen, möchte die Zentrifugalkraft ihn in die Weiten des Weltalls zerren.

Das Kräftegerangel führt zu einem Patt. Unser Trabant bewegt sich auf einer (in Wirklichkeit elliptischen) Kreisbahn um die Erde, auf der sich Flieh- und Schwerkraft stets genau ausgleichen. Genau betrachtet aber kreist der Mond gar nicht um die Erde. Auch unser Planet gerät ins Taumeln, und beide Himmelskörper bewegen sich um ihren gemeinsamen Schwerpunkt. Da aber die Erde viel schwerer ist als der Mond, liegt dieser Schwerpunkt rund 4600 Kilometer vom Erdmittelpunkt entfernt, also innerhalb des Globus. Dennoch genügt das kleine irdische Herumeiern, um auf unserem Planeten eine Fliehkraft wirken zu lassen.

Das Entscheidende: Diese Fliehkraft ist an jedem Punkt der Erde gleich groß – egal ob in Hamburg oder auf Hawaii. Anders ist es mit der Massenanziehung des Mondes: Sie hängt – das wusste schon Newton – vom Abstand zwischen Erde und Mond ab und hebt sich nur im Erdmittelpunkt exakt mit der Fliehkraft auf. Auf der dem Mond zugewandten Erdseite dagegen ist die Massenanziehung ein wenig größer als die Zentrifugalkraft, auf der abgewandten Seite ein wenig kleiner. Die aus dieser Differenz resultierenden Kräfte reichen aus, um die Wassermassen der Ozeane in Schwingungen zu versetzen und zwei Gezeiten pro Tag zu erzeugen.

Durch die Eigendrehung der Erde wandern sie um den Globus herum und erzeugen an den Küsten täglich zwei Mal Hoch- und zwei Mal Niedrigwasser. Mit jedem Tag verschiebt sich der Eintritt von Ebbe und Flut um 50 Minuten – die Folge davon, dass der Mond nicht 24 Stunden für seinen Umlauf um die Erde braucht, sondern 50 Minuten länger.


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mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Frank Grotelüschen und Jochen Bertholdt

Der Physiker Frank Grotelüschen, Jahrgang 1962, arbeitet als freier Wissenschaftsautor in Hamburg. In mare No. 32 berichtete er über die untermeerische Neutrinoforschung.

Jochen Bertholdt, geboren 1936 in Leipzig, ist Grafiker und lebt in Rostock. Seine Spezialität sind neben technischen Darstellungen die Kleinstformate: Er hat mehr als 100 Briefmarken entworfen.

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Vita Der Physiker Frank Grotelüschen, Jahrgang 1962, arbeitet als freier Wissenschaftsautor in Hamburg. In mare No. 32 berichtete er über die untermeerische Neutrinoforschung.

Jochen Bertholdt, geboren 1936 in Leipzig, ist Grafiker und lebt in Rostock. Seine Spezialität sind neben technischen Darstellungen die Kleinstformate: Er hat mehr als 100 Briefmarken entworfen.
Person Von Frank Grotelüschen und Jochen Bertholdt
Vita Der Physiker Frank Grotelüschen, Jahrgang 1962, arbeitet als freier Wissenschaftsautor in Hamburg. In mare No. 32 berichtete er über die untermeerische Neutrinoforschung.

Jochen Bertholdt, geboren 1936 in Leipzig, ist Grafiker und lebt in Rostock. Seine Spezialität sind neben technischen Darstellungen die Kleinstformate: Er hat mehr als 100 Briefmarken entworfen.
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