Das Elfenbein des Meeres

Freizeitbeschäftigung während der Flauten im 19. Jahrhundert: Kunsthandwerk aus Walzähnen

Der berühmteste Scrimshaw ist ein immaterieller, doch womöglich dauerhafter als jeder reale: „So mächtig bewegte mich Ahabs finster schreckliches Bild, dass ich in den ersten Augenblicken kaum bemerkte, wie sehr zu diesem überwältigenden Eindruck von finsterem Schrecken das grausige weiße Bein beitrug, auf dem die eine Seite seines Körpers ruhte. Ich hatte schon früher gehört, dass dieses Bein auf hoher See aus dem geglätteten Kieferknochen eines Pottwals für ihn gedrechselt worden war.“ So beschreibt der Erzähler-Matrose Ismael in Herman Melvilles „Moby Dick“ die erste Begegnung mit seinem geheimnisumwitterten Kapitän an Bord der „Pequod“.

Es lässt sich vorstellen, dass die an seiner Herstellung Beteiligten, der Schiffszimmermann wohl und der eine oder andere kunsthandwerklich erfahrene Matrose, allen Ehrgeiz daransetzten, ihrem Captain ein Meisterstück maritimer Schnitzarbeit zu fertigen. Im Umgang mit Walbein und Walknochen kannten sie sich ja aus. Sie alle schnitzten in ihren freien Stunden, während des nervtötenden, mitunter wochenlangen Wartens, bis der Ausguck endlich wieder aussang „There she blows!“ und die Mannschaft in wohlorganisierte Hektik ausbrach –, sie alle schnitzten, feilten und ziselierten an irgendwelchen Pottwal- oder Walrosszähnen und Platten aus Walknochen. Um leere Zeit totzuschlagen, um ihren Lieben daheim dermaleinst ein persönliches Souvenir aus der weiten ozeanischen Welt mitbringen zu können, oder auch nur, um im nächsten Hafen durch den Verkauf ihrer kunsthandwerklichen Arbeiten ein paar Schilling nebenher verdienen zu können. Und nun gar ihres gefürchtet-bewunderten Kapitäns Bein, das er in schicksalhaftem Kampf mit dem Weißen Wal verloren hatte!

Womöglich also war Ahabs künstliches Bein ein Kunstwerk. Heutzutage würde es, wenn es denn existierte und zurückverfolgbar echt wäre, auf jeder internationalen Scrimshaw-Auktion Zehntausende bringen.

Vunisea im März 1994, ein kleines Dorf an der Nordküste der Insel Kadavu im Südseearchipel Fiji. Ich war gekommen, fijianische Freunde wiederzusehen und einige Wochen mit ihnen zu leben. Am ersten Abend der obligate Besuch beim Chief, um – fijianischer Sitte entsprechend – das Gastgeschenk zu überreichen und – fijianischer Tradition gemäß – die Erlaubnis zum Aufenthalt im Dorf einzuholen.

Mein Blick fiel auf ein Bündel Tabuas, die neben quietschbunten Familienfotos an einem Balken hingen. Um fijianische Etikette wissend, pries ich Menge und Größe der Tabuas, und der geschmeichelte Dorffürst ließ sie holen, damit ich sie genauer ansehen könne.

Tabuas sind Pottwalzähne, je größer und älter desto höher im Wert. Sie sind bis zu 25 Zentimeter lang, rund, gebogen und an der Basis mitunter so dick wie eine Männerfaust. Tabuas gelten als höchstes und heiligstes Besitztum eines Fiji, nicht mit Gold aufzuwiegen. Ein Regierungsdekret untersagt, sie außer Landes zu bringen. Sie verbleiben, als gehüteter Schatz, über Generationen in einer Familie. Wenn sie jedoch, als höchstes zeremonielles Geschenk, weitergegeben werden, weiß der Beschenkte, dass daran unweigerlich eine Bitte oder Forderung geknüpft ist, die er, wenn er die begehrte Gabe akzeptiert, zu erfüllen verpflichtet ist. Das kann eine Mordtat sein, die Hand der Tochter, Beistand im Krieg gegen den Nachbarstamm.

So war es in den alten kannibalischen Zeiten. Das wussten die Walfänger zu nutzen, Pottwalzähne fielen in ihrem Gewerbe zuhauf an. Bis zu 50 stecken im Unterkiefer eines Tieres. Für Walzähne bekam man in Fiji, und nicht nur dort in der Südsee, so gut wie alles. Schweine, Kokosnüsse, Gemüse, Früchte, Sandelholz, Süßwasser und Arbeitskräfte.

Die Tabua, der Zahn des mächtigen Leviathan, hat seine rituelle Bedeutung auch in dem modernen aufstrebenden Südseestaat behalten. Kein nationales Ereignis, keine Grundsteinlegung für eine Schule, keine Einweihung einer Flugpiste ohne die zeremonielle Übergabe von Tabuas.

Ich wog die schweren Stücke in den Händen, fühlte ihre glatte Oberfläche, begutachtete ihre sanfte Honigfarbe, das Zeichen hohen Alters. Dann stutzte ich: Ein besonders großer, besonders regelmäßig geformter, besonders sorgfältig geglätteter Zahn war dekoriert. Er trug, in zarten dunklen Linien eingraviert, das Bild eines vollgetakelten Dreimasters unter geblähten Segeln, davor, auf dem gleichmäßig ondulierten Wasser, zwei bemannte Ruderboote, im Bug eines jeden eine aufrecht stehende Figur mit erhobener Harpune. Hier eine großmächtige Fluke aus dem Wasser ragend, dort ein kofferförmiger Pottwalkopf. Im Hintergrund Bergsilhouetten einer Insel mit hohen Palmen; in einem rechteckigen Schild die Inschrift „Bark Reunion 1864 – greasy luck and safe return“.

Ich hielt, ohne bislang das mindeste darüber zu wissen, zum erstenmal ein Stück Scrimshaw in Händen, ein Original und – weil datiert und mit Angabe des Schiffes, von dem es stammte – ein besonders wertvolles dazu.

Monate nach meiner Rückkehr aus pazifischen Gefilden sah ich ein altes Foto von John F. Kennedy: der Präsident hinter seinem Schreibtisch im Oval Office. Ein offizielles Pressefoto, ich kannte es. Aber jetzt erst fielen mir einige ungewöhnliche Gegenstände auf Kennedys Schreibtisch ins Auge.

Millionen Menschen in aller Welt hatten das Foto gesehen und sich womöglich ebenfalls gefragt, was für merkwürdige Objekte der mächtigste Mann der westlichen Welt da vor sich aufgebaut hatte. Scrimshaws, gravierte Pottwalzähne, kam die Antwort aus dem Pressebüro des Weißen Hauses: „Mr. President ist ein Sammler und Fan von Scrimshaws.“

Kennedys Kollektion war weder besonders umfangreich (34 Walzähne, drei Walrosshauer), noch enthielt sie Stücke von außergewöhnlichem Wert; einige Exemplare waren „neue“ Arbeiten, und wie bei allen Objekten wahrer Sammelbegierde rangieren auch bei Scrimshaws die nachweislich ältesten am höchsten in Gunst und Preis. – Apropos Preise: Gerade die hat John F. Kennedy allein mit der Zurschaustellung seiner Sammlung auf jenem Foto unbeabsichtigt in die Höhe schießen lassen. Hatte dem Hobby des „srimshaw-collecting“ bislang eine eher kleine, feine Schar Eingeweihter fast im Verborgenen gefrönt, so war es, zumal in den USA, mit einem Mal schick, auf dem Kaminsims den einen oder anderen Walzahn zur Schau stellen zu können; Kennedy als Trendsetter, auch hier.

Binnen weniger Jahre stiegen die Preise auf das Doppelte, Drei- und Vierfache. 1977 wurde in den USA ein besonders begehrtes Exemplar, eine Blaue Mauritius unter den Scrimshaws, für 11 000 Dollar versteigert. Und die Preise klettern weiter. Je weniger echte, alte Stücke auf den Markt kommen, desto höher. Welch ein Wunder, dass es mittlerweile auch schon eine etablierte Szene für Repliken und ausgeklügelte Fälschungen gibt.

Spätestens als Jaqueline Kennedy ihrem ermordeten Ehemann einen Walzahn mit eingraviertem Präsidentensiegel in den Sarg legte, war die Kunst des Scrimshawing als ein Teil des US-amerikanischen Erbes entdeckt und geadelt.

Angesichts ihrer jungen Geschichte reagieren Amerikaner auf jedes erhaltene materielle Zeugnis nationaler Vergangenheit und Identität mit historistischem Enthusiasmus. Und hier war, greif- und besitzbar, ein solches identitätstiftendes Zeugnis aus Pioniertagen, an dem sich nationale Mythen festmachen ließen. – Mythen von der Eroberung unbekannter Weiten, von Kämpfen unter Einsatz des Lebens, von Selbstbestimmung und Selbstvertrauen. „Nur dem Planwagen vergleichbar wird das Walfangschiff immer ein Symbol amerikanischer Größe bleiben“, hatte schon Franklin D. Roosevelt konstatiert. Zu Zeiten, als die Ausrottung des größten und geheimnisvollsten Lebewesens das Weltgewissen noch nicht sensibilisiert hatte.


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mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Hans-Christof Wächter und Vincent Kohlbecher

Hans-Christof Wächter ist Theaterregisseur und Autor und wohnt in Berlin – wenn er nicht gerade durch den Pazifik reist. Für mare schrieb er über seine Fahrten mit der „Queen Elizabeth II“ (mare No. 1) und mit einem Koprafrachter (mare No. 3).

Vincent Kohlbecher, Jahrgang ’60, studierte Grafik und Fotografie in Hamburg und spezialisierte sich auf Fotoreportagen. Seit zehn Jahren arbeitet er freiberuflich für Zeitschriften und Magazine. Die hier abgebildeten Scrimshaws fotografierte er in der Privatsammlung Helmut Landmann, die in Neuharlingersiel zu besichtigen ist.

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Vita Hans-Christof Wächter ist Theaterregisseur und Autor und wohnt in Berlin – wenn er nicht gerade durch den Pazifik reist. Für mare schrieb er über seine Fahrten mit der „Queen Elizabeth II“ (mare No. 1) und mit einem Koprafrachter (mare No. 3).

Vincent Kohlbecher, Jahrgang ’60, studierte Grafik und Fotografie in Hamburg und spezialisierte sich auf Fotoreportagen. Seit zehn Jahren arbeitet er freiberuflich für Zeitschriften und Magazine. Die hier abgebildeten Scrimshaws fotografierte er in der Privatsammlung Helmut Landmann, die in Neuharlingersiel zu besichtigen ist.
Person Von Hans-Christof Wächter und Vincent Kohlbecher
Vita Hans-Christof Wächter ist Theaterregisseur und Autor und wohnt in Berlin – wenn er nicht gerade durch den Pazifik reist. Für mare schrieb er über seine Fahrten mit der „Queen Elizabeth II“ (mare No. 1) und mit einem Koprafrachter (mare No. 3).

Vincent Kohlbecher, Jahrgang ’60, studierte Grafik und Fotografie in Hamburg und spezialisierte sich auf Fotoreportagen. Seit zehn Jahren arbeitet er freiberuflich für Zeitschriften und Magazine. Die hier abgebildeten Scrimshaws fotografierte er in der Privatsammlung Helmut Landmann, die in Neuharlingersiel zu besichtigen ist.
Person Von Hans-Christof Wächter und Vincent Kohlbecher