Die Kanzel des Priesters Chris Bennett steht überall dort, wo er Lust hat zu reden. Dünnes Gras sprießt um seine Füße. Dunkle Pfützen sammeln sich zwischen Abraum und zusammengeschobenen Erdhügeln. Direkt hinter der Brache beginnt das Gelände des George Best Belfast City Airport. Fluglärm und Wind zerren an Chris Bennetts Worten, und seine kleine Gemeinde muss sich eng um ihn scharen. Der Geistliche trägt eine Outdoorjacke statt eines Talars. Das Gesangbuchsingen wird ersetzt durch Musik aus einem Lautsprecher, den sich der 37-Jährige unter den Arm geklemmt hat.
Es ist Sonntagnachmittag in Queen’s Island, dem alten Werftviertel von Belfast. Dort, wo der protestantische Priester und seine Kirchgänger gerade stehen, bauten Arbeiter einst Schiffe aller Art – von gigantischen Ozeanriesen bis zu unzähligen Kähnen, Schleppern, Dampfern und Kriegsschiffen. Belfast war einst die wichtigste Werftstadt der Welt.
Nach dem Niedergang verwaiste Queen’s Island, viele Belfaster vermieden die Docks. Was wollte man auch auf diesem öden Terrain? Überall Verfall, triste Produktionshallen. Nur ein Bürogebäude und das alte Trockendock waren erhalten geblieben.
Inzwischen gibt es einen Masterplan für das Viertel. Und einen Namen: Titanic Quarter. Denn hier lief vor 100 Jahren auch die „Titanic“ vom Stapel. Lange Zeit war der gesunkene Luxusdampfer ein Tabuthema in der Stadt; man redete nicht darüber, man wollte schlicht vergessen, dass das berühmteste Schiff der Welt von der Belfaster Werft Harland & Wolff gebaut worden war.
Jetzt aber kehrt die „Titanic“ auf wundersame Weise zurück nach Belfast, zurück nach Queen’s Island. Der Name soll Touristen aus aller Welt locken, das neue 75 Hektar große Titanic Quarter der Stolz der Stadt werden. Das hypermoderne Museum „Titanic Belfast“ ist bereits in Betrieb. Genauso wie ein College, eine Bank, ein Musikarchiv und ein Zentrum für Hightech-Startups. In der ehemaligen Lackierhalle produziert man Filme. Drei Apartmenthäuser mit schicken Wohnungen sind auch schon bezogen. Der Bau des neuen Viertels kostet sieben Milliarden Pfund, 35 000 Menschen sollen in Zukunft hier wohnen.
Was es im Titanic Quarter noch nicht gibt, sind Kirchen. Priester Bennett, Mitglied der Anglikanischen Kirche, setzt daher auf den Gottesdienst im Gehen, den er „Dock Walk“ nennt. Mal beten er und seine Gemeinde am Trockendock, mal loben sie den Herrn am Abercorn Basin, wo ein Yachthafen entstehen soll.
Bennett war vor zweieinhalb Jahren von der Church of Ireland als Kaplan für das Titanic Quarter eingesetzt worden. „Am Anfang war da nur ein weißes Blatt“, erzählt er. „Kein Gemeindezentrum, kein Geld, nur ich.“ So verbrachte er die ersten Monate mit Brainstorming, unterhielt sich mit Leuten. Schnell war klar, dass man gar kein Kirchengebäude brauchte. Warum nicht ein Schiff zur Kirche machen? Das passte zum Viertel.
Und es sollte eine Kirche für alle Konfessionen werden. Ein Ort, an dem die ehemaligen Feinde zusammenkommen, Katholiken und Protestanten. Wo könnte das besser funktionieren als auf einem Schiff? Ein Schiff ist neutraler Boden, und den findet man im religiös und politisch zerstückelten Belfast sonst kaum. Und ein Schiff hat den Vorteil, dass sich ein Streit darüber, wie das gemeinsame Gebäude aussehen soll, erübrigt. Ein Schiff ist eben ein Schiff.
Aus der Vision wurde im vergangenen Jahr eine Kapitalgesellschaft namens Dock Church, mit Businessplan, Vorstand und Geschäftsführung. Dafür brachte Bennett Leute verschiedener Glaubensrichtungen und Berufe zusammen, von Pfarrern und Priestern bis zu Bankmanagern. Vorgesehen ist, dass die Gesellschaft das Schiff stellt und die Kirchen die Kapläne einsetzen. Sie dürfen es gemeinsam oder auch getrennt nutzen, um ihrer eigenen Liturgie zu folgen. Anglikaner und Methodisten haben bereits Kapläne ernannt, die presbyterianische Kirche steht kurz davor, und auch auf die katholische Kirche hofft man fest.
Das Schiff ist noch nicht gefunden. Für den Kauf fehlt noch das nötige Geld. 490 000 Euro sieht der Businessplan vor, plus die Kosten für den Umbau zum Kirchenraum. Zuerst müssen also Spenden eingetrieben werden. In der Zwischenzeit hat die Dock Church ein Interimscafé eröffnet. Für ein symbolisches Pfund im Monat darf sie eine noch nicht vermietete Ladenfläche im Erdgeschoss eines der neuen Apartmenthäuser nutzen.
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Anja Martin, Jahrgang 1970, freie Journalistin in Berlin, war es unangenehm, als sie von einem Dock-Church-Mitglied gefragt wurde, wann sie ihren Glauben verloren habe. Es war wohl während ihres Ethnologiestudiums.
Andrew Testa, Jahrgang 1965, Fotograf in London, fand es bedrückend, wie präsent in Belfast die Trennung von Protestanten und Katholiken immer noch ist.
Vita | Anja Martin, Jahrgang 1970, freie Journalistin in Berlin, war es unangenehm, als sie von einem Dock-Church-Mitglied gefragt wurde, wann sie ihren Glauben verloren habe. Es war wohl während ihres Ethnologiestudiums.
Andrew Testa, Jahrgang 1965, Fotograf in London, fand es bedrückend, wie präsent in Belfast die Trennung von Protestanten und Katholiken immer noch ist. |
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Person | Von Anja Martin und Andrew Testa |
Vita | Anja Martin, Jahrgang 1970, freie Journalistin in Berlin, war es unangenehm, als sie von einem Dock-Church-Mitglied gefragt wurde, wann sie ihren Glauben verloren habe. Es war wohl während ihres Ethnologiestudiums.
Andrew Testa, Jahrgang 1965, Fotograf in London, fand es bedrückend, wie präsent in Belfast die Trennung von Protestanten und Katholiken immer noch ist. |
Person | Von Anja Martin und Andrew Testa |