Bob rettet die Welt

Ein Naturschützer auf langen Beinen: Im karibischen Inselparadies Curaçao ist der Flamingo Bob zur Berühmtheit geworden

Mitte Oktober 2016 ereilt Odette Doest in ihrer Tierarztpraxis in Willemstad, der Hauptstadt der Karibikinsel Curaçao, ein Notruf: Auf dem Gehweg vor dem „Hilton“-Hotel liege ein schwer verletzter Flamingo. Auf Höhe des dritten Stockwerks sei er gegen eine Fensterscheibe geflogen, berichten Augenzeugen. Der Vogel hat eine Gehirnerschütterung, sein linker Flügel ist verstaucht.

Odette Doest, geboren 1973, bringt den Flamingo in ihre Praxis und verarztet ihn. Einen Monat lang soll er sich erholen. Dann will sie ihn zu seinen Artgenossen fliegen lassen, die 20 Kilometer nordwestlich von Willemstad an einem Salzsee leben. Doch der Vogel wird nicht fit genug. Dafür macht er in der Hauptstadt Karriere: Er wird Arztgehilfe, Botschafter für den Naturschutz, TV-Star – und als Fotomodell international berühmt.

In Europa war die Insel Curaçao, die 60 Kilometer vor Venezuelas Küste liegt, bisher nur durch den gleichnamigen Likör aus karibischen Bitterorangen ein Begriff. Inzwischen aber interessieren sich auch in unseren Breiten viele Menschen mehr für den zahmen Flamingo als für das Kultgetränk. „Er ist eben ein ganz besonderer Vogel“, sagt die Tierärztin mit dem schwarzen Kraushaar und den fröhlichen Augen.

Der Flamingo zeigt keinerlei Furcht vor Menschen. Dabei hätte er allen Grund dazu. Denn er hat starke Ekzeme an den Fußsohlen, er leidet an Pododermatitis. In seiner Jugend wurde er in Gefangenschaft gehalten, ergaben Recherchen der Tierärztin, auf hartem Betonboden. Weil er den Besitzern zu bockig wurde, ließen sie ihn schließlich frei. Doch das Überleben in der Natur fiel ihm schwer. Flamingos brauchen geschmeidige Füße, um Krebstiere, Muscheln und Würmer aus dem Schlammboden von Salzseen buddeln zu können. „Als er vor dem Hotel auf dem Asphalt lag, war er völlig ausgehungert und wog nur noch 1,5 Kilogramm.“

In Odette Doests Wohnung, direkt neben der Tierarztpraxis, findet der Vogel ein neues Zuhause – mit Vollpension. Sie tauft ihn Bob. Zu seinen neuen Mitbewohnern zählen zehn Hunde, neun Katzen und zwölf Papageien. Doch der Flamingo genießt einen Sonderstatus. Sogar wenn Odette Doest operiert, sitzt er oft dabei. „Das hat einen beruhigenden Einfluss auf die Patienten“, sagt die Veterinärmedizinerin. Besonders Tieren, die länger stationär behandelt werden müssen, tue Bobs Gegenwart gut. Vögel beispielsweise brauchen in der Regel bis zu einer Woche, um sich an ein neues Umfeld zu gewöhnen, erzählt sie. Ein schwer verletzter Flamingo aber, der von einem streunenden Hund angefallen wurde, hatte neulich schon nach einem Tag kaum mehr Angst, wenn sie sich ihm näherte. „Bob hat ihm dabei geholfen, sich zu entspannen.“

Bobs wichtigste Aufgabe ist jedoch die Öffentlichkeitsarbeit. Bei der Naturschutzorganisation Fundashon Dier en Onderwijs Cariben, die sein Frauchen 2015 gegründet hat, wirkt er als Botschafter. „Leider haben viele Einheimische und Touristen auf Curaçao wenig Respekt vor der Natur“, sagt Odette Doest. Dabei sei die Tierwelt der Insel grandios. Fünf Arten Wasserschildkröten leben hier, Leguane, Schopfkarakaras mit schwarzen Kronen auf dem Haupt, Kolibris – und eben Flamingos. „Aber manche Leute werfen Steine nach den Flamingos, nur um Selfies mit fliegenden rosafarbenen Vögeln im Hintergrund schießen zu können.“ Odette Doest will das Naturbewusstsein fördern, und Bob hilft ihr dabei.

Bald nach seinem Einzug bei ihr wird sie als Naturschutzexpertin in eine lokale TV-Talkshow eingeladen. Als sie fragt, ob sie einen Flamingo mitbringen darf, denken die Produzenten an ein Kuscheltier. Der Moderator ist sichtlich irritiert, als sie mit dem quietschlebendigen Bob auftaucht. Doch der Flamingo be- nimmt sich tadellos vor der Kamera und schnattert nie dazwischen. Nur stubenrein ist er nicht ganz.

Häufig unterstützt er sein Frauchen in Schulklassen. Viele Kinder aus Willemstad haben, obwohl 250 Artgenossen von Bob in ihrer Nähe leben, noch nie einen Flamingo in freier Natur gesehen. Nun kommt ein solcher Paradiesvogel sie persönlich besuchen. Aufregend! „Die Kinder wollen alles darüber erfahren, was Bobs Leben von dem seiner Kollegen in der Natur unterscheidet“, erzählt Odette Doest. Ganz besonders interessieren sie sich für seine Lieblingsspeise – Rogen, den er ihr aus der Hand frisst. Und nebenbei lernen sie viel über Ökologie. Wenn die Kinder Bob nach dem Workshop zum Auto der Tierärztin zurücktragen dürfen, strahlen sie vor Stolz.

Im Winter 2016 nimmt Bobs Karriere international Fahrt auf. Odette Doests Cousin Jasper reist an, ein junger Fotograf aus der Gegend von Rotterdam. Er will auf der Insel Naturaufnah- men machen; die Fotos sollen die Wände der Tierarztpraxis zieren. Dann aber spaziert Bob zu ihm ins Gästezimmer, und Jasper Doest ändert seine Pläne. Wie ein Hoffotograf beginnt er, den Alltag des Flamingos zu dokumentieren. Er porträtiert ihn umringt von Schulkindern, auf der Straße oder im TV-Studio. „Der Vogel wurde zu meiner Muse“, sagt Jasper Doest. Für seine Porträts von Bob wird er 2019 bei den World Press Photo Awards ausgezeichnet. Sechs Monate lang sind die Bilder im Natural History Museum in London zu sehen – und Bob wird auch in Europa berühmt.

Der Rummel um ihn steigt dem Flamingo nicht zu Kopf. Wie seit eh und je geht er mit seinem Frauchen auf Curaçao auf Vortragsreise. „Bob leistet viel für all die Flamingos da draußen“, sagt Odette Doest. Die Tierärztin hat ihr Aufklärungsprogramm ausgeweitet. Sie besucht mit Bob inzwischen auch Angehörige der Küstenwache, Pfadfinder, Senioren, Feuerwehrleute und Polizisten und trommelt mit seiner Hilfe für mehr Respekt vor der Natur. Während der Rückfahrt entspannt er sich auf ihrem Schoß.

Hin und wieder bekommt Bob einen Tag frei. „Dann nehme ich ihn mit an den Strand zum Baden“, erzählt die Tierärztin, „das liebt er besonders.“ Nicht nur für seine Artgenossen ist Bob ein Glücksfall. Viele Menschen auf der Karibikinsel wurden erst durch ihn für den Naturschutz sensibilisiert. Und selbst im fernen Deutschland wissen Tierfreunde inzwischen, dass Curaçao mehr ist als ein Likör.

mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Till Hein und Jasper Doest

Als Till Hein, geboren 1969, Wissenschaftsjournalist in Berlin, zu Hause von dieser Recherche erzählte, wurde sein neunjähriger Sohn ganz neidisch auf die Schulkinder von Curaçao. Seine Klasse in Berlin-Kreuzberg habe noch nie Besuch von einem lebenden Tier bekommen.

Der niederländische Fotograf Jasper Doest fotografiert lieber Tiere als Menschen. Es sei wichtig, Tiere als „echte Individuen“ zu sehen und ihnen eine Stimme zu geben.

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Vita Als Till Hein, geboren 1969, Wissenschaftsjournalist in Berlin, zu Hause von dieser Recherche erzählte, wurde sein neunjähriger Sohn ganz neidisch auf die Schulkinder von Curaçao. Seine Klasse in Berlin-Kreuzberg habe noch nie Besuch von einem lebenden Tier bekommen.

Der niederländische Fotograf Jasper Doest fotografiert lieber Tiere als Menschen. Es sei wichtig, Tiere als „echte Individuen“ zu sehen und ihnen eine Stimme zu geben.
Person Von Till Hein und Jasper Doest
Vita Als Till Hein, geboren 1969, Wissenschaftsjournalist in Berlin, zu Hause von dieser Recherche erzählte, wurde sein neunjähriger Sohn ganz neidisch auf die Schulkinder von Curaçao. Seine Klasse in Berlin-Kreuzberg habe noch nie Besuch von einem lebenden Tier bekommen.

Der niederländische Fotograf Jasper Doest fotografiert lieber Tiere als Menschen. Es sei wichtig, Tiere als „echte Individuen“ zu sehen und ihnen eine Stimme zu geben.
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