Barfuss bis zum Horizont

Nicht Land, nicht Meer und erst bei genauerer Betrachtung ein faszinierendes Habitat für unzählige Lebewesen. Das Wattenmeer ist die berühmteste deutsche Naturlandschaft – aber es ist keineswegs einzigartig

Es beginnt immer im Westen, irgendwo auf Höhe der niederländischen Insel Texel. Das Meer, das sich eben noch an den Strand geschmiegt hat, zieht sich zurück. Zentimeter für Zentimeter gibt es das Land vor der Küste frei. Was zunächst nur ein schmaler, schlammiger Saum ist, wächst schnell bis zum Horizont. Der Boden glänzt wie ein neugeborenes Baby.

Fünf Stunden braucht die Ebbe, um sich nach Hamburg vorzuarbeiten, drei weitere, bis sie die Halbinsel Skallingen in Dänemark erreicht. Insgesamt fallen über eine Länge von etwa 500 Kilometern rund 4700 Quadratkilometer Meeresboden trocken. Nach gut sechs Stunden kehrt die Nordsee um und schluckt, wiederum von Texel ausgehend, was sie eben erst freigegeben hat.

4700 Quadratkilometer, das ist ein Gebiet fast doppelt so groß wie das Saarland. Und es ist fast vollkommen frei von Vegetation. Wasserkanäle, sogenannte Priele, schneiden sich durch geriffelte Sand- und Schlickebenen, die zumeist von einer braunen Schmiere bedeckt sind. Nur gelegentlich bieten Muschelbänke oder Seegraswiesen Abwechslung für das Auge. Oft riecht es faulig.

Doch spätestens wenn der Wind einmal schweigt, merkt man, dass das Trostlose nur Kulisse ist. Denn in der Flaute hört man ein sanftes Knistern, so vielversprechend wie das Perlen in einem Glas Champagner. Es kommt direkt aus dem Meeresboden und ist das Geräusch von Millionen von Schnecken, Krebsen, Würmern und Muscheln, die hier, meist im Untergrund verborgen, wohnen und atmen und dabei immer wieder feinste Wasserfilme zum Platzen bringen. Dies sei „des Meeres gärender Ton“, schrieb im 19. Jahrhundert der norddeutsche Schriftsteller und Dichter Theodor Storm.

Gemeint hat Storm den Klang eines wundersamen Lebensraums, den wir Watt nennen. Wattenmeere findet man überall dort, wo Ebbe und Flut die Pegel an den Küsten senken und heben. „Es gibt sie fast in jeder Region der Welt“, sagt Martin Stock, Biologe am Landesamt für den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, oft dort, wo der Einfluss der Gezeiten stark ist. Allein Gebiete jenseits des 70. Breitengrads, wo dickes Eis Schlammablagerungen verhindert, bilden keine Watten. Eine Sonderform sind die Tidezonen der Tropen, in denen der Schlick häufig mit Mangroven bewachsen ist.

Watten sind weder Land noch Meer, sondern beides. Einen Teil des Tages werden sie vom Salzwasser überspült. Dann wieder trocknen sie aus. Im Winter kann ein Watt gefrieren. Im Sommer heizt die Sonne jede Pfütze im Watt auf lebensfeindliche Temperaturen. Der Wind kann hier an der Küste derart tosen, dass sich selbst Fluginsekten nur krabbelnd fortbewegen. Und die Gezeitenströme ordnen den Untergrund so kontinuierlich neu, dass sogar erfahrene Seefahrer hin und wieder den Überblick verlieren. „Wer im Watt keine Angst hat, überlebt nicht lange“, sagen die Menschen an der Nordsee.

Ihr Watt ist das berühmteste und größte der Welt. 60 Prozent der europäischen Wattflächen befinden sich in der Nordsee. Grund dafür ist eine geologische Besonderheit. Einst lag zwischen England und dem europäischen Kontinent begehbarer Boden. Menschen siedelten hier. Noch heute findet man gelegentlich Spuren vergangener Zeit, etwa Pfeilspitzen oder Sicheln im Schlick. Doch als am Ende der letzten Eiszeit vor rund 10 000 Jahren die Pole teilweise abschmolzen, stieg nicht nur der Meeresspiegel. Befreit vom Gewicht der großen Gletscher, hob sich die Erdkruste in Nordskandinavien. Im Gegenzug senkte sich das andere Ende der Platte, die Nordsee.

Beides bewirkte die Überflutung der Landbrücke. Dies aber geschah so langsam und in einer so flachen Gegend, dass sich Sand im seichten Wasser ablagerte, der von Flüssen aus dem Hinterland herangetragen wurde. Wind und Wellen türmten den Sand zu 20 Meter hohen Dünen auf. Zeitweise bildeten sie einen fast nahtlosen Wall parallel zur Küste.

Wir kennen die Reste dieses Walls als West- und Ostfriesische Inseln, die sich in einer Kette von Texel nach Wangerooge ziehen. Ihnen ist es zu verdanken, dass das Nordseewatt überlebt. Weil sie die Brandung des Meeres bremsen, kann sich in ihrem Rücken weiterhin Sediment im Küstenbereich ablagern. Und es wird immer nur so viel weggewaschen, dass sich der neue Boden nie dauerhaft aus dem Wasser erhebt. So ist eines der fruchtbarsten Biotope der Erde entstanden.

Ähnliche Prozesse ließen auch vor der Küste Mauretaniens in der Banc d’Arguin ein großes Watt entstehen. Die Dünen der Sahara gehen dort direkt in den Schlick des Meeresbodens über. In der Bucht von Mont-Saint-Michel in Frankreich fallen zweimal täglich 250 Quadratkilometer trocken, und vor dem US-Bundesstaat Georgia sind es 300 Quadratkilometer, die sich um 13 Flussmündungen verteilen. Watten bilden sich auch vor den Küsten Sibiriens, wo sich der Wasserpegel bei Ebbe und Flut nur um wenige Zentimeter unterscheidet. Stattdessen hilft der Wind, Wasser aufs Land zu schieben. Ganz anders ist es in Kanadas Bay of Fundy: Dort sorgt ein Tidenhub von bis zu 21 Metern für eine ausgedehnte Schlicklandschaft.


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mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Ute Eberle

Ute Eberle, Jahrgang 1972, aufgewachsen im küstenlosen Bayern, lebt heute als freie Wissenschaftsjournalistin im holländischen Leiden – in naher Nachbarschaft zum Watt also, wo sie sommers gern wandern geht.

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Vita Ute Eberle, Jahrgang 1972, aufgewachsen im küstenlosen Bayern, lebt heute als freie Wissenschaftsjournalistin im holländischen Leiden – in naher Nachbarschaft zum Watt also, wo sie sommers gern wandern geht.
Person Von Ute Eberle
Vita Ute Eberle, Jahrgang 1972, aufgewachsen im küstenlosen Bayern, lebt heute als freie Wissenschaftsjournalistin im holländischen Leiden – in naher Nachbarschaft zum Watt also, wo sie sommers gern wandern geht.
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