Als der Ozean geteilt wurde

In drei „Cod Wars“ stritten Islands und Englands Kriegsmarine seit den 1960ern um die Kabeljaugründe im Nordmeer. In der Folge wurden weltweit Hoheitsgewässer auf 200 Seemeilen erweitert

Vor der Küste Islands spielen sich im Frühling 1973 Szenen ab, die fast 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kaum jemand für möglich gehalten hätte. Britische Fischereischiffe rammen isländische Küstenschutzboote. Granaten schlagen in Trawler ein. Soldaten der Royal Navy feuern Leuchtraketen auf ein Flugzeug ab. Westliche Demokratien, die als Nato-Partner verbündet sind, bekämpfen einander. Kaum ein Tag vergeht ohne Manöver und Schüsse. Das kleine Island mit gerade einmal 200 000 Einwohnern hat Großbritannien und Westdeutschland herausgefordert. Nun herrscht Krieg auf dem Nordatlantik. Wie konnte es so weit kommen?

Karl Keirat, 87, gleitet mit dem Zeigefinger über eine vergilbte Seekarte. Im Fischereimuseum Cuxhaven, umgeben

von historischen Schleppnetzen und rostigen Ankern, zieht er eine Linie nach, die vor der isländischen Küste verläuft: die Zwölfmeilenzone. „Damit fing der ganze

Ärger an“, erinnert sich Keirat. Es ging um Islandkabeljau, „schmeckt köstlich“, schwärmt der ehemalige Fischereikapitän. „Schon an der Textur seines Fleisches kann ich ihn vom Kabeljau aus jeder anderen Region unterscheiden.“

In den 1950er Jahren wimmelt es rund um die isländische Küste von diesen Prachtexemplaren. Doch immer mehr riesige Trawler aus Großbritannien und Westdeutschland, mit modernen Filetier- und Gefrieranlagen an Bord, dringen in das Kabeljauparadies vor. „Die Isländer fühlten sich bedroht“, erzählt Keirat. Vier Fünftel ihres Territoriums bestehen aus Gletschern, Seen, Lavafeldern und Ödland. 90 Prozent ihrer Exporte sind Fische und Fischereiprodukte. Island lebt vom Meer, besonders vom Kabeljau. Daher ruft Reyk-javík im Frühling 1958 eine Schutzzone von zwölf Seemeilen vor der Küste aus, in die kein ausländischer Trawler mehr eindringen darf. Ein Affront. Bisher gilt der Grundsatz des „mare liberum“, des „freien Meeres“. Die Schätze der Ozeane dürfen von jedermann uneingeschränkt genutzt werden. Einzig drei Seemeilen vor den Küsten sind für fremde Fischer tabu. Eine Faustregel aus dem Mittelalter, als Kanonenschüsse vom Ufer so weit reichten.

Karl Keirat gehört zur Bonner Delegation, die im Sommer 1958 in Reykjavík einen Kompromiss aushandeln will. „Die Insulaner ließen uns eiskalt auflaufen“, erzählt er. „Mit hängenden Ohren fuhren wir wieder nach Hause.“ Westdeutschland fügt sich der Forderung der Isländer. Anders Großbritannien: „Weiterfischen!“ befiehlt London seinen Hochseekapitänen und sendet ein Geschwader Kriegsschiffe ins isländische Küstenmeer.

37 Marineschiffe der Royal Navy mit einer Besatzung von 7000 Mann schützen von nun an die Dutzenden britischer Trawler. Dabei verfügt die isländische Küstenwache nur über sieben Boote, und der Inselstaat hat keine Armee. Die Briten verhöhnen ihre Gegner, bewerfen sie mit Kartoffeln aus der Kombüse, richten Wasserschläuche auf sie. Doch die Isländer lassen sich nicht einschüchtern. Unermüdlich navigiert die Küstenwache mit ihren wendigen Booten zwischen den schweren Trawlern aus dem Vereinigten Königreich hin und her, behindert die Fischer beim Auswerfen und Einholen der Netze und verdirbt ihnen den Fang.

Noch hält sich die Royal Navy zurück. Denn Reykjavík verfügt über ein Druckmittel: Auf Island liegt eine wichtige Nato-Basis, von der aus das westliche Militärbündnis die sowjetischen Kriegsschiffe im Nordatlantik überwacht. Den Stützpunkt Keflavík darf selbst eine Großmacht wie das Vereinigte Königreich nicht gefährden, wissen die Marineoffiziere.

Am 12. November 1958 eskaliert der Konflikt. Die Küstenwache feuert Warnschüsse vor den Bug eines britischen Trawlers. Da reißt dem Kapitän des Kriegsschiffs „HMS Russell“ der Geduldsfaden. Über Bordfunk droht er, das Patrouillenboot zu versenken. Es bleibt bei der Drohung, doch der Konflikt greift aufs Festland über. In Reykjavík werfen Demonstranten mit Pflastersteinen die Fensterscheiben der britischen Botschaft ein. Die Vereinten Nationen berufen in Genf eine große Seerechtskonferenz ein, aber alle Vermittlungsversuche scheitern. Nicht nur, dass die isländische Küstenwache die Arbeit der britischen Hochseefischereiflotte weiterhin sabotiert. Vor den Augen der Marinesoldaten verhaftet sie Trawler-

crews, lässt britische Kapitäne in Reykjavík vor Gericht stellen und fordert Schadensersatz für „gestohlenen Kabeljau“. Bis im März 1961, nach zweieinhalb Jahren Kampf, das Unfassbare geschieht: London kapituliert. Island hat gesiegt.


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mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Till Hein

Till Hein, Jahrgang 1969, freier Autor in Berlin, hat auch im Alltag oft mit Kabeljau zu tun. Dieser Fisch ist nämlich das Lieblingsessen seines kleinen Sohnes, allerdings ausschließlich in Stäbchenform.

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Vita Till Hein, Jahrgang 1969, freier Autor in Berlin, hat auch im Alltag oft mit Kabeljau zu tun. Dieser Fisch ist nämlich das Lieblingsessen seines kleinen Sohnes, allerdings ausschließlich in Stäbchenform.
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Vita Till Hein, Jahrgang 1969, freier Autor in Berlin, hat auch im Alltag oft mit Kabeljau zu tun. Dieser Fisch ist nämlich das Lieblingsessen seines kleinen Sohnes, allerdings ausschließlich in Stäbchenform.
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