Die Arktisregion Tschukotka im äussersten Nordosten Russlands hat mich von jeher fasziniert, denn selbst für jemanden wie mich, die in der angrenzenden Republik Jakutien aufgewachsen ist, schien sie extrem zu sein und unglaublich weit weg. Als ich 2018 an einem Fotoprojekt arbeitete, bei dem ich Menschen und Gemeinschaften entlang der Nordostpassage begleitete, ergab sich die Möglichkeit eines Besuchs. Ich beschloss, nach Enurmino zu fahren, einer der abgelegensten Küstenorte Tschukotkas. Um dorthin zu gelangen, musste ich einen achtstündigen Flug von Moskau in die Regionalhauptstadt Anadyr nehmen, von dort ein kleines Flugzeug nach Lawrentija und von dort einen Passagierhelikopter nach Enurmino, der an zwei Tagen im Monat fliegt.
Obwohl ich mich um ein perfektes Timing bemüht hatte, musste ich wegen schwieriger Wetterverhältnisse fast einen Monat auf diesen Flug warten. Aufgrund ihrer Abgeschiedenheit lebt die 300-köpfige tschuktschische Gemeinschaft noch immer vom Land und vom Meer und legt großen Wert auf ihre Kultur und ihre Traditionen. In den beiden darauffolgenden Jahren kehrte ich in das Dorf zurück, um seine Menschen zu fotografieren, deren Überleben – genau wie das ihrer Vorfahren seit Tausenden Jahren – von der Jagd auf Meeressäuger wie Walrosse, Wale und Robben abhängt.
Eines Tages, als ich mit den Jägern unterwegs war, landeten wir auf dem Kap Serdtse-Kamen. Dessen Strand sah anders aus – der Sand dunkel und übersät von Knochen und Schädeln und in der Luft ein übler Geruch von Verwesung. Mitten auf diesem gespenstischen Strand befand sich eine kleine, heruntergekommene Hütte. Die Jäger erklärten mir, dass sich jedes Jahr im Herbst Tausende von Walrossen an diesem Strand versammelten und dass während dieser Zeit ein Meeresbiologe namens Maxim Tschakilew in der Hütte lebte, um die Tiere zu beobachten und zu erforschen. Zusammen mit meinem Bruder Maxim (der genauso heißt wie der Wissenschaftler, weshalb ich ihn in diesem Text „Bruder“ nennen werde) kam ich im folgenden Jahr zurück, um den Wissenschaftler bei seiner Arbeit zu begleiten. Es sollte die überwältigendste und eindringlichste Erfahrung unseres Lebens werden.
Zwei Wochen saßen wir mit Maxim in dessen Hütte und warteten auf die Ankunft der Walrosse. Eines Nachts kam mein Bruder, der kurz draußen austreten war, aufgeregt zurück. Ich lag in meinem Schlafsack und hörte, wie er auf und ab ging und laut atmete. „Hey! Steh auf und sieh dir das an!“, sagte er. Ich öffnete die Tür. Draußen befand sich buchstäblich ein Meer von Walrossen. Verstärkt wurde diese surreale Szene durch das blaue Licht der Morgendämmerung und den Nebel, den der Atem von Tausenden Tieren verursachte. Während der folgenden Woche waren wir vollständig von ihnen umringt und konnten die Hütte nicht verlassen.
In einer perfekten Welt verlassen sich Walrosse während ihrer Wanderung und Futtersuche auf schwimmendes Meereis. Doch inzwischen ist die Tschuktschensee im Sommer eisfrei, sodass die Tiere sich nirgends ausruhen können. Also müssen sie in großer Zahl an Land kommen, wo sie allerdings Gefahr laufen, in Panik zu geraten und sich gegenseitig totzutrampeln. Geschwächt durch die Erschöpfung werden viele von ihnen, besonders die Jungen, verletzt und unter dem Gewicht der schweren Körper begraben. Tagelang stand ich in der Tür, beobachtete und fotografierte ihr Leiden und fühlte mich hilflos. Immer deutlicher wurde mir das Ausmaß der Klimakrise in der Arktis und der gesamten Welt bewusst.
Als ich nach Hause zurückkehrte und meine Bilder durchsah, wurde mir klar, dass sie nicht die ganze Geschichte erzählten. Mein Bruder und ich kamen zu dem Schluss, dass ein Film das geeignetere Medium wäre. Und dass die Geschichte aus der Sicht Maxim Tschakilews erzählt werden müsste.
Im Jahr darauf brach die Pandemie aus, und wir hatten alle Zeit der Welt, um unseren Film zu drehen. Ich rief Maxim an und fragte ihn, ob wir ihn für die gesamte Dauer seines Aufenthalts von September bis November begleiten dürften. Da er einen eher schüchternen Eindruck auf uns gemacht hatte, war ich nicht sicher, ob er damit einverstanden sein würde, die Hauptfigur des Films zu sein, aber zu meiner Überraschung war er offen für alles. Er erzählte mir, dass der Winter außergewöhnlich warm war und die Braunbären nicht in den Winterschlaf gingen, sie waren aggressiv, fielen die Menschen im Dorf an und schlichen um das Kap herum. Maxim lebt allein und ist unbewaffnet, und insofern erschien es uns allen eine gute Idee, den Sommer gemeinsam zu verbringen.
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Der 25-minütige Film „Haulout“ der russischen Fotografin und Autorin Evgenia Arbugaeva, Jahrgang 1985, und ihres Bruders Maxim Arbugaev, geboren 1991, wurde 2023 in der Kategorie „Bester Dokumentarkurzfilm“ für einen Oscar nominiert.
Lieferstatus | Lieferbar |
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Vita | Der 25-minütige Film „Haulout“ der russischen Fotografin und Autorin Evgenia Arbugaeva, Jahrgang 1985, und ihres Bruders Maxim Arbugaev, geboren 1991, wurde 2023 in der Kategorie „Bester Dokumentarkurzfilm“ für einen Oscar nominiert. |
Person | Von Evgenia Arbugaeva und Maxim Arbugaev |
Lieferstatus | Lieferbar |
Vita | Der 25-minütige Film „Haulout“ der russischen Fotografin und Autorin Evgenia Arbugaeva, Jahrgang 1985, und ihres Bruders Maxim Arbugaev, geboren 1991, wurde 2023 in der Kategorie „Bester Dokumentarkurzfilm“ für einen Oscar nominiert. |
Person | Von Evgenia Arbugaeva und Maxim Arbugaev |