Alle Erinnerung ist Gegenwart

Die Halbinsel Mönchgut nimmt einen besonderen Rang auf Rügen ein. In der Abgeschiedenheit blühten eigen­artige Riten und Mythen unter den Fischern. Ein Fotograf dokumentierte ihr Leben

Als ich Mitte der sechziger Jahre mit meiner Mutter aufs Mönchgut fuhr, zuckelten auf den Kopfsteinpflasterstraßen zwischen Baabe und Thiessow noch Pferdefuhrwerke über Land, und an den Stränden wehten die Netze der Reusen wie riesige Spinnweben im Wind. Die Fischer standen mit ihren Frauen am Anleger und pukten Heringe aus den Maschen, legten sie in grob gezimmerte Holzkisten und schoben den Fang auf großen Karren in die Salzhäuser. Ihre Boote lagen wie gestrandete Wale an Land, und aus dem Bodden ragten die hohen Pfähle der Reusen, deren Standorte seit Generationen im Besitz der Fischerkompanien waren.

Meine Mutter hatte beruflich in den Zweigstellen der Sparkassen von Baabe und Göhren zu tun und musste mit den Vorsitzenden der Fischereigenossenschaften über Kredite und Bürgschaften reden. Anschließend gingen wir mitunter noch baden oder wandern. Auf den Zickerschen Bergen weideten große Schafherden, und auf den Feldern sahen wir manchmal einen Bauern hinter einem Pflug, der von einer Kuh gezogen wurde. Am Ortseingang von Gager lagen in den Trümmern der alten Windmühle schwere Mühlsteine, als wäre gerade ein marodierendes Söldnerheer durchgezogen. Und wenn wir zu den Fischerfesten kamen, auf denen die Mönchguter in alten Trachten ihren „Schüddel-de-Büx“ tanzten und das Lied vom furchtbaren Saalhund sangen, dem Seehund, der die Netze zerrissen und den Fang gefressen hat, fühlte ich mich endgültig in ein anderes Jahrhundert versetzt.

Ich wuchs in Sassnitz auf, das damals zu einer modernen Hafenstadt mit internationalem Fährverkehr und industriellem Fischfang ausgebaut wurde. Die letzten Fischer- und Bauernkaten waren längst Neubaublocks und Kaufhallen gewichen, an den Piers lagen moderne Kutter und Trawler, auf denen mein Vater bis in den Nordatlantik fuhr. Das Land zwischen Mönchgraben und Saalsufer kam mir im Vergleich dazu wie eine Welt von gestern vor.

1967 hatte ich einen Band mit Rügener Sagen geschenkt bekommen, und die schaurigsten davon spielten auf dem Mönchgut. Da lauerte der Aufhocker, eine kopflose Gestalt, die im Reddevitzer Busch auf späte Heimkehrer wartete und ihnen auf den Rücken sprang. Nur wenn man schnell bis zum Hals ins Wasser ging, konnte man den stummen Würger abschütteln. Da war der wilde Jäger, der auf seinem feurigen Pferd durch die Lüfte ritt und Scharen kleiner Frauen mit weißem Fell vor sich hertrieb, die unter der Erde bei Svantegard hausten. Die bekannteste Sage war jene von der Brücke aus Pferdeschädeln, die über den Graben führte, der die Halbinsel vom Festland trennte. Als eines Tages eine reiche Frau ein Brot in diesen Graben warf, um einen weggespülten Schädel zu ersetzen, brach eine Sturmflut über das Mönchgut herein. Die Sage erinnerte an die Allerheiligenflut von 1309, die weite Teile des Landes in die See riss und das Neue Tief schuf. Die alten Männer und Frauen, die ich vor ihren niedrigen Katen sitzen und Netze flicken sah, kamen mir vor, als seien sie selbst Sagengestalten und hätten all das noch mit eigenen Augen gesehen.

Schon 1252 hatten die Zisterzienser vom Kloster Eldena das Land Reddevitz vom Rügenfürsten Jaromar II. zum Lehen erhalten. 100 Jahre später kam der südliche Teil der Halbinsel dazu, und 1360 kaufte das Kloster auch Groß und Klein Zicker. Nördlich vom Fischerdorf Baabe ließen die Mönche einen Graben ziehen, um ihren Besitz vom übrigen Rügen abzutrennen. Seitdem hieß die Halbinsel das „Mönnich Gaud“ oder, auf hochdeutsch, das Mönchgut.

Um das karge Land zu bewirtschaften, holten die Zisterzienser Fischerbauern aus Niedersachsen nach Rügen. Damals war das Mönchgut noch bewaldet, aber das Holz brauchte man nun für die neuen Dörfer Middelhagen, Philippshagen und Klein Hagen.
Aus den gerodeten Wäldern wurden Äcker und Weideland. Die Mönche hatten sich Vorkaufsrechte für Ernten und Fänge zusichern lassen, auch Hopfen, Salz und Wolle waren dem Kloster vorbehalten. Die Stoffe für die Alltags- und Festbekleidung wurden von den Fischerfrauen gesponnen, gewebt, gefärbt und zugeschnitten. Sie bewahrten ihre Trachten und Bräuche, und das Platt, das hier gesprochen wurde, verstand man auf den anderen Inselteilen kaum. Wenn meine Mutter mit den Fischern sprach, durfte ich mich manchmal in ein Boot am Anleger setzen und hörte dem bedächtigen Singsang der Gespräche zu.

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mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von Holger Teschke und Volkmar Herre

Holger Teschke, 1958 auf Rügen geboren und dort aufgewachsen, fuhr bis 1979 zur See, studierte anschließend Schauspielregie in Berlin und unterrichtet heute Theatergeschichte und Schauspieldramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Er hat über das Mönchgut in seinen Büchern „Inselzeiten“ und „Gebrauchsanweisung für Rügen und Hiddensee“ geschrieben und wandert noch immer gern zwischen Alt Reddevitz und Klein Zicker.

Volkmar Herre, 1943 in Freiberg/Sachsen geboren, lebt in Stralsund. Von 1963 bis 1968 absolvierte er ein Fotografiestudium in Leipzig. Danach widmete er sich der Architektur- und Objektfotografie für Kunstverlage. Seine freien Themen verlagerten sich vom Menschen zur Landschaft – die Insel Rügen entwickelte sich zu seinem „Atelier“. In der „Edition herre“ wird seit 1996 das Schaffen in Büchern, Kalendern, Karten und Drucken publiziert. Ein still gehegter Wunsch bleibt die umfassende Publikation der von 1962 bis 1972 entstandenen Mönchguter Studien, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist. Auf dem Mönchgut wohnte er häufig bei der Familie Knuth in Groß Zicker. Mit den Kindern Iris, Silke und Rainer (Fotos Seite 59 ff.) steht er bis heute in Kontakt.

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Vita Holger Teschke, 1958 auf Rügen geboren und dort aufgewachsen, fuhr bis 1979 zur See, studierte anschließend Schauspielregie in Berlin und unterrichtet heute Theatergeschichte und Schauspieldramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Er hat über das Mönchgut in seinen Büchern „Inselzeiten“ und „Gebrauchsanweisung für Rügen und Hiddensee“ geschrieben und wandert noch immer gern zwischen Alt Reddevitz und Klein Zicker.

Volkmar Herre, 1943 in Freiberg/Sachsen geboren, lebt in Stralsund. Von 1963 bis 1968 absolvierte er ein Fotografiestudium in Leipzig. Danach widmete er sich der Architektur- und Objektfotografie für Kunstverlage. Seine freien Themen verlagerten sich vom Menschen zur Landschaft – die Insel Rügen entwickelte sich zu seinem „Atelier“. In der „Edition herre“ wird seit 1996 das Schaffen in Büchern, Kalendern, Karten und Drucken publiziert. Ein still gehegter Wunsch bleibt die umfassende Publikation der von 1962 bis 1972 entstandenen Mönchguter Studien, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist. Auf dem Mönchgut wohnte er häufig bei der Familie Knuth in Groß Zicker. Mit den Kindern Iris, Silke und Rainer (Fotos Seite 59 ff.) steht er bis heute in Kontakt.
Person Von Holger Teschke und Volkmar Herre
Vita Holger Teschke, 1958 auf Rügen geboren und dort aufgewachsen, fuhr bis 1979 zur See, studierte anschließend Schauspielregie in Berlin und unterrichtet heute Theatergeschichte und Schauspieldramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Er hat über das Mönchgut in seinen Büchern „Inselzeiten“ und „Gebrauchsanweisung für Rügen und Hiddensee“ geschrieben und wandert noch immer gern zwischen Alt Reddevitz und Klein Zicker.

Volkmar Herre, 1943 in Freiberg/Sachsen geboren, lebt in Stralsund. Von 1963 bis 1968 absolvierte er ein Fotografiestudium in Leipzig. Danach widmete er sich der Architektur- und Objektfotografie für Kunstverlage. Seine freien Themen verlagerten sich vom Menschen zur Landschaft – die Insel Rügen entwickelte sich zu seinem „Atelier“. In der „Edition herre“ wird seit 1996 das Schaffen in Büchern, Kalendern, Karten und Drucken publiziert. Ein still gehegter Wunsch bleibt die umfassende Publikation der von 1962 bis 1972 entstandenen Mönchguter Studien, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist. Auf dem Mönchgut wohnte er häufig bei der Familie Knuth in Groß Zicker. Mit den Kindern Iris, Silke und Rainer (Fotos Seite 59 ff.) steht er bis heute in Kontakt.
Person Von Holger Teschke und Volkmar Herre