Albert im Wind

Noch wohler als in einem Labor fühlte Einstein sich offenbar in seinem Segelboot. Die Törns schienen sein Genie zu inspirieren

„Ich habe keine besondere Begabung“, schrieb Albert Einstein 1952 in einem Brief, „sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“ Ob er mit dieser ­Einschätzung richtiglag, sei dahingestellt. Seine Entdeckungen auf Expeditionen in wissenschaftliches Neuland waren in jedem Fall spektakulär. Als der Rektor der ­Princeton University dem Physiker im Mai 1921 die Ehrendoktorwürde verlieh, adelte er Einstein denn auch als den „neuen Kolumbus der Naturwissenschaft, der einsam durch die fremden Meere des Denkens fährt“. Eine schöne maritime Metapher, die jedoch höchstens die halbe Geschichte erzählt.

In Wirklichkeit nämlich segelte Einstein keineswegs ausschließlich durch die „Meere des Denkens“, und auf seinen Törns in der materiellen Welt war er selten allein. Mit Vorliebe lud er attraktive Frauen oder gute Kumpel dazu ein. „Die Freude an dieser Beschäftigung steht ihm ins Gesicht geschrieben“, so sein Schwiegersohn Rudolf Kayser um 1930. „Sie hallt in seinen Worten und in seinem glücklichen Lächeln wider.“ Einstein hatte riesigen Spaß am Segeln. Und nicht nur das: Bei Windstille machte er sich dabei oft Notizen, oder er berichtete den Mitseglern begeistert von seinen neuesten Ideen zu den physikalischen Grundgesetzen. „Es ist unmöglich, nicht darüber zu spekulieren, wie viel von der Relativitätstheorie Einstein auf Segeltörns in die Hände gefallen sein mag“, schreibt das US-Fachblatt „Good Old Boat“. Wohl auch, weil sich Erkenntnisse ja häufig nicht beim einsamen Grübeln einstellen, sondern während man anderen ­seine Gedanken zu vermitteln versucht.

Das Segeln erlernte Einstein Ende der 1890er-Jahre auf dem Zürichsee. Er war jung und studierte am Eidgenössischen Polytechnikum Physik. Möglichst viel Zeit verbrachte er gemeinsam mit Susanne Markwalder, der charmanten Tochter seiner Vermieterin, auf dem Wasser. Ständig trug er an Bord der Jolle ein Notizbuch bei sich, schreibt die Segelpartnerin in ihren Memoiren. Bei Flaute holte er es hervor und kritzelte los. „Aber sobald ein Hauch von Wind aufkam, war er sofort bereit, wieder zu segeln.“ In Briefen an Freunde erwähnte er in jener Zeit bereits seine Beschäftigung mit einer revolutionären Idee, die die „Theo­rie von Raum und Zeit“ verändern werde.

Vielleicht ist es also kein Zufall, dass sich der entscheidende Ausgangspunkt seiner Relativitätstheorie gut am Beispiel eines Boots auf dem Wasser erläutern lässt. Nehmen wir an, eine schnelle Yacht gleitet mit einer Geschwindigkeit von 20 Knoten – also gut 37 Kilometern pro Stunde – dahin, und an Bord joggt ein Passagier mit zehn Kilometern pro Stunde in Fahrtrichtung. Dann addieren sich die Geschwindigkeiten von Boot und Läufer. Vom Ufer aus betrachtet, hat dieser also eine Gesamtgeschwindigkeit von 47 Kilometern in der Stunde.

Schickt die Person an Bord nun aber, statt zu joggen, einen Lichtstrahl in Fahrtrichtung, dann hat dieser Strahl selbst das Tempo c (Lichtgeschwindigkeit) – und intuitiv geht man davon aus, dass er vom Ufer aus betrachtet eine Gesamtgeschwindigkeit von 37 Stundenkilometern plus c haben muss. Das klingt logisch, ist jedoch falsch. In Wirklichkeit nämlich bleibt Licht immer gleich schnell, egal ob es von einem festen Standort an Land aus losgeschickt wird, von einer sanft dahingleitenden Segelyacht oder einem übers Wasser schießenden Schnellboot. Da addiert sich nichts. Ein Lichtstrahl behält auch in Fahrtrichtung einer Rennyacht immer exakt die Geschwindigkeit c. Lichtgeschwindigkeit eben, eine Naturkonstante. 

Dass Einstein auch mit seinen revolutionären Folgerungen aus der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit richtiglag, ist inzwischen in zahlreichen Experimenten gezeigt worden. Und seine spezielle Relativitätstheorie beweist immerhin so kuriose Dinge wie den Umstand, dass es auf die Frage, ob zwei Ereignisse an verschiedenen Orten gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden, keine für alle Beobachter gleichermaßen gültige Antwort gibt. Oder dass ein Astronaut, der ein Jahr mit einem Raumschiff durchs All fliegt, bei seiner Rückkehr jünger ist als sein Zwillingsbruder, der auf der Erde blieb. „Einsteins Erkenntnisse begründeten eine vollkommen neue Interpretation von Raum und Zeit. In schnell bewegten Systemen erscheint die Zeit verlangsamt, und Abstände schrumpfen zusammen“, sagt Sönke Harm, Physiker und Einstein-Experte an der Universität Kiel. „Und die Erweiterung zur allgemeinen Relativitätstheorie, bei der Einstein seine Überlegungen 1916 auf den mit Massen gefüllten Raum ausweitet, wird im 21.  Jahrhundert unter anderem präzise Ortsbestimmungen per GPS ermöglichen.“ 


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mare No. 166

mare No. 166Oktober / November 2024

Von Till Hein

Till Hein, geboren 1969, Journalist in Berlin, ist das Gegenteil von Albert Einstein: Er kann schwimmen, aber nicht segeln. Noch lieber spielt er Fußball. Und auf dem Bolzplatz wird er manchmal für einen Physiker gehalten. „Ich weiß nicht genau, weshalb“, sagt er, „hoffe aber, dass es als Kompliment gemeint ist.“

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Vita Till Hein, geboren 1969, Journalist in Berlin, ist das Gegenteil von Albert Einstein: Er kann schwimmen, aber nicht segeln. Noch lieber spielt er Fußball. Und auf dem Bolzplatz wird er manchmal für einen Physiker gehalten. „Ich weiß nicht genau, weshalb“, sagt er, „hoffe aber, dass es als Kompliment gemeint ist.“
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Vita Till Hein, geboren 1969, Journalist in Berlin, ist das Gegenteil von Albert Einstein: Er kann schwimmen, aber nicht segeln. Noch lieber spielt er Fußball. Und auf dem Bolzplatz wird er manchmal für einen Physiker gehalten. „Ich weiß nicht genau, weshalb“, sagt er, „hoffe aber, dass es als Kompliment gemeint ist.“
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