Zum tiefsten Punkt der Erde

1960 erreichte der Schweizer Jacques Piccard mit dem Tauchboot „Trieste“ den Grund des Marianengrabens

Samstag, 23. Januar 1960, 17 Uhr 10 Ortszeit. Westpazifik, rund 380 Kilometer südwestlich von Guam. Zwei graue Kriegsschiffe der US-Navy schaukeln in der bewegten See. Sie schwimmen so hoch über dem Meeresgrund, wie ein Düsenjet in der Stratosphäre fliegt. Fast elf Kilometer tief ist der Ozean an dieser Stelle, dem Marianengraben. Zwischen den Wellenkämmen können die Männer an Bord des Zerstörers „Lewis“ und des Begleitschiffes „Wandank“ gelegentlich einen kleinen weißen Fleck ausmachen, ein Gebilde, das auf einige Entfernung aussieht wie ein helles Rohr mit aufgesetztem kleinem, orangegestreiftem Schacht. Es ist das Tieftauchboot „Trieste“, und es war wenige Stunden zuvor unter den beiden Kriegsschiffen, ganz weit unten. Die „Trieste“ ist an diesem Tag zur bis dahin tiefsten bekannten Stelle dieses Planeten hinabgetaucht, ein Unternehmen fast so kompliziert und risikoreich wie ein Mondflug.

Seit über zehn Minuten dümpelt sie wieder an der Oberfläche. Schwere See verzögert das Übersetzen mit Schlauchbooten. Doch eigentlich hätten sich die beiden Männer an Bord der „Trieste“ schon längst auf dem Ausstiegturm zeigen und im Triumph winken oder sich doch wenigstens per Unterwassertelefon melden können. Doch das Tauchboot bleibt stumm. Den beunruhigten Seeleuten der Kriegsschiffe kommt ein Verdacht: Vielleicht ist dort unten irgendetwas schrecklich schiefgegangen, vielleicht hat die „Trieste“ zwei Leichen zurückgebracht...

Immerhin ist ihr Bauprinzip schon ein gutes halbes Jahrhundert alt. Auguste Piccard, der genialische Schweizer Physiker und Techniker, ersinnt schon als Student alle wesentlichen Prinzipien eines „Bathyskaph“ (von griechisch „bathys“, Tiefe, und „skáphos“, Schiff), doch fehlen ihm die Mittel und wohl auch das Interesse, das Projekt zu entwickeln. Denn Piccard strebt zunächst in die Höhe: 1931 erreicht er zusammen mit einem Assistenten in einem Heliumballon mit untergehängter Druckkapsel eine Höhe von mehr als fünfzehn Kilometern und stößt damit als erster Mensch bis in die Stratosphäre vor.

Erst ab 1937 arbeitet er, später unterstützt von seinem 1922 geborenen Sohn Jacques, intensiv an der Entwicklung eines Bathyskaphs. Zunächst soll dieses neue Extrem-Vehikel, wie schon sein Höhenballon, in Belgien finanziert und gebaut werden, denn Piccard arbeitet an der Universität Brüssel und genießt die Unterstützung der Regierung. Doch dann kommt der Zweite Weltkrieg dazwischen, anschließend folgen, wie Jacques Piccard später diplomatisch verbrämt schreiben wird, „bedauerliche Reibereien“ und eine „bürokratische Verwaltung“.

Die Piccards wenden sich an die französische Marine; Jacques Cousteau rühmt ihr Tauchboot als „schönste Erfindung des Jahrhunderts“. Doch wieder folgen endlose Scherereien, eine „Mauer von Tradition, ein Berg von Verordnungen“, ja „üble Absichten“. Die beiden Schweizer merken, dass es der französischen Marine nur um ihr Know-how geht. Danach sollen sie im wahrsten Sinne des Wortes ausgebootet werden. 1951 geben die beiden entnervt auf und lassen ihr fertiges Bathyskaph „FNRS 3“ bei der französischen Marine zurück.

Es folgt ein organisatorisches Husarenstück. In der Epoche der beginnenden Raumfahrt, der Atomwissenschaft und der riesigen Forschungslaboratorien finanzieren die Piccards im Stile von viktorianischen Gentlemen-Forschern ein neues Tieftauchboot aus eigener Tasche. Zufallskontakte zu italienischen Werften und zur dortigen Marine helfen, so dass 1953 das zweite Bathyskaph vom Stapel laufen kann und, dem neuen Gastland zu Ehren, auf den Namen der italienischen Hafenstadt Trieste getauft wird.

Das Tieftauchboot hat eine entfernte optische Ähnlichkeit mit den deutschen Luftschiffen, die Graf Zeppelin ungefähr zu jener Zeit entwickelt hatte, als auch dem jungen Auguste Piccard die Idee für sein zweites Extremprojekt gekommen war – und tatsächlich funktionieren beide nach denselben Prinzipien.

Der Schweizer Professor entwirft ein Tauchboot, dessen Auftrieb so geregelt wird, dass es das spezifische Gewicht des Wassers in jeder beliebigen Tiefe annehmen kann. Zwei Mann Besatzung zwängen sich in eine nur 2 Meter 20 durchmessende Kugel, die auch dem Druck der extremsten Tiefe widerstehen soll. Die aus drei miteinander verklebten Teilen gefertigte Kapsel hat bis zu 18 Zentimeter dicke Stahlwände. Die beiden eingelassenen, trichterförmigen Plexiglasfenster gleicher Stärke messen an der Außenseite 40 Zentimeter, innen nur sechs – es ist, als müssten die Männer an Bord durch zwei überdimensionierte Brillengläser hinaussehen. Wichtiger als ihre Sinne ist in der absoluten Schwärze der Tiefsee ohnehin das Echolot, das die Besatzung rechtzeitig warnen soll, damit nicht – wie bei ersten Testfahrten noch geschehen – die „Trieste“ unerwartet früh und gefährlich heftig auf den Meeresgrund knallt.

Die Kugel hängt unter einem fast 18 Meter langen und dreieinhalb Meter durchmessenden Schwimmkörper, einem Zylinder aus lächerlich dünnem Stahlblech, den das Meer schon in wenigen Metern Tiefe wie eine Coladose zusammendrücken könnte. Doch gerade hier liegt das Neue an Piccards Entwicklung: Gefüllt ist dieser 129 Kubikmeter große Behälter mit Flugbenzin, dessen spezifisches Gewicht etwas leichter ist als Wasser – wie die Traggase Wasserstoff oder Helium im Luftschiff, die leichter sind als Luft. Doch von unten kann Wasser eindringen und das Benzin zusammenpressen, je tiefer die „Trieste“ sinkt, weshalb im Schwimmkörper immer derselbe Innendruck wie außerhalb herrscht.

Gesteuert wird die „Trieste“ wie ein Ballon. Drei zusätzlich flutbare Wasserkammern reichen aus, um das Tauchboot in die Tiefe sinken zu lassen. Regulieren lässt sich dies dann nur noch durch die Abgabe von Ballast. Bis zu 16 Tonnen Eisenschrot können mittels Magneten feinfühlig dosiert fallen- oder etwas Flugbenzin aus dem Schwimmkörper abgelassen werden. Im ersten Falle wird die „Trieste“ leichter, im zweiten schwerer.

Das Tauchboot kann nicht nur wie ein Fahrstuhl hinauf- und hinunterfahren, sondern sich auch in der Waagerechten bewegen. Doch die beiden auf dem Oberdeck angebrachten Schrauben werden von zwei Elektromotoren angetrieben, die zusammen gerade vier PS leisten, genug nur für einen Knoten Höchstgeschwindigkeit und wenige Kilometer Reichweite. Die „Trieste“ muss deshalb zum jeweiligen Einsatzort geschleppt werden.

Im Sommer 1953 tauchen die Piccards im Mittelmeer. Nach ersten Tests geht es am 30. September auf 3150 Meter hinab – Weltrekord! Nach diesem Triumph zieht sich der Vater aus der aktiven Teilnahme zurück. Von nun an ist Jacques der einzige Pilot. Der andere Platz an Bord steht jetzt Wissenschaftlern zur Verfügung.

Doch das Projekt steckt in einer Sackgasse. Den Piccards fehlt das Geld für einige Verbesserungen und neue Expeditionen. Auch können sie im Mittelmeer kaum noch tiefer tauchen. Zu allem Überfluss kontern die Franzosen ein Jahr später mit der von den Piccards gebauten „FNRS 3“: Sie gehen vor Dakar an der Westküste Afrikas auf 4050 Meter hinunter. Sie verkünden zudem, dass sie ein neues „Super-Bathyskaph“ bauen werden. Und auch die Sowjetunion will, glaubt man Gerüchten, die Tiefsee erobern. Wie bei den Expeditionen zu den Polen, zum Mount Everest, zum Mond, so gibt es plötzlich auch ein „Rennen“ zum tiefsten Punkt der Erde.

Für die Piccards, die die schlechtesten Karten zu haben scheinen, ändert sich alles, als sich die US-amerikanische Marine für das seltsame Gefährt zu interessieren beginnt, das mehr als zehnmal tiefer tauchen kann als das atomgetriebene U-Boot „Nautilus“. Die „Trieste“ wird für Ozeanographen interessant, aber auch für Militärs, kann man doch mit ihr zum Beispiel fast perfekt messen, wie sich Schallwellen in unterschiedlichen Wassertiefen ausbreiten, was bei der Entwicklung neuer Ortungssysteme unschätzbare Vorteile bringt.


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mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Cay Rademacher

Cay Rademacher, Jahrgang 1965, ist Historiker und freier Journalist in Zülpich im Rheinland. Seine Reportage „Die letzte Fahrt der ,Morro Castle‘“ erschien als Sonderbeilage zu mare No. 5.

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Vita Cay Rademacher, Jahrgang 1965, ist Historiker und freier Journalist in Zülpich im Rheinland. Seine Reportage „Die letzte Fahrt der ,Morro Castle‘“ erschien als Sonderbeilage zu mare No. 5.
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