Zehn Minuten, bis die Welle kommt

Leben in der Gefahrenzone – keine andere Stadt der Welt wird häufi­ger von Tsunamis getroffen als Crescent City in Kalifornien

Es war dann das Boot, das auch dem Letzten die Zweifel nahm, das angespülte Holzboot am Strand. Lag eines Morgens auf den Kieseln, kieloben, zugewachsen mit Algen, verkrustet mit Muscheln, fast sah es aus wie ein surreales Kunstwerk mit seinen Schriftzeichen zwischen dem Meeresgetier. Jemand hatte es entdeckt, jemand anderes die Polizei gerufen, jetzt standen sie also am Strand um das Boot herum und glaubten nicht, was sie längst ahnten.

Später erfuhren sie, dass sie an jenem Morgen richtig lagen mit ihrer Vermutung, dass das Boot aus Japan stammte, dass es tatsächlich beim Tsunami im März 2011 gekentert und zwei Jahre über den Pazifik getrieben war, von einer Küste zur anderen, 5000 Meilen weit. Weil es unbeschädigt geblieben war, nannte die Lokalpresse es „das Wunderboot“. Und dass es am Ende seiner Reise ausgerechnet bei ihnen gestrandet war – war das nicht auch so etwas wie ein Wunder? Entlang der gesamten nordamerikanischen Westküste nämlich gab es nur eine einzige Stadt, die damals vom gleichen Tsunami getroffen worden war wie Fukushima auf der anderen Seite des Ozeans. Und wer bis zu jenem Morgen noch immer bezweifelte, dass diese Stadt in Gefahr war, dem war das Boot ein Menetekel.

Crescent City liegt ganz im Norden Kaliforniens, an der Grenze zu Oregon. Die Region ist berühmt für ihre Redwoods, Zehntausende Küstenmammutbäume stehen in den National und State Parks Spalier. Es sind diese Wälder, die das Klima an der Küste prägen. Die 100 Meter hohen Redwoods fangen die vom Meer heranziehende Feuchte ab und hüllen die Welt in dichten Nebel. Es gibt Tage in Del Norte County, an denen man den Pazifik nicht sehen kann, obwohl die Küste keine 50 Meter weit entfernt ist. Wie mit dem Lineal gezogen verläuft sie, nur an einer Stelle schwingt das Land sich ins Meer hinaus. Auf diesem Punkt liegt Crescent City, die Mondsichelstadt, mit seinen 7000 Einwohnern: ein paar Straßenzüge Zentrum, Fast-Food-Restaurants, Sportplatz, ein ausfransendes Gewerbegebiet mit Supermärkten und Baumärkten.

Früher war die Stadt ein bedeutender Umschlagplatz der Holzindustrie, später ein Fischereistützpunkt mit pittoreskem Leuchtturm, heute ist das Hochsicherheitsgefängnis Pelican Bay der wichtigste Arbeitgeber. Unter Beobachtung steht Crescent City allerdings wegen seiner Tsunamis. 1933 begann man mit der wissenschaftlichen Aufzeichnung solcher Wellen. Seitdem wurde die Stadt 37-mal getroffen, mehr als jede andere auf der Welt. Wer einen Tsunami und seine Folgen verstehen will, muss in Crescent City beginnen.

Obwohl wir meist von einem Tsunami sprechen, bezeichnet der Begriff in Wahrheit eine ganze Serie von Wellen, die durch eine plötzliche tektonische Verschiebung am Meeresboden verursacht werden. Auch Rutschungen, Meteoriteneinschläge und vulkanische Aktivität können Tsunamis auslösen. In der Regel aber entstehen sie als unmittelbare Folge eines Seebebens. Auf dem Meer nimmt man einen Tsunami kaum wahr – flache Wellen in großem Abstand, die ein Boot kurz anheben, mehr ist da nicht.

Die ungeheure Energie verbirgt sich unter der Oberfläche, in der Tiefe des Ozeans. Gelangt eine Tsunamiwelle in flacheres Gewässer, wird sie gestaucht und bäumt sich auf. Dann wächst die kleine Woge zu einer 20, 30 Meter hohen Wand aus Wasser heran, die mit unvorstellbarer Wucht aufs Land kracht. Tsunami kommt aus dem Japanischen, „tsu“ bedeutet Hafen, „nami“ Welle – angeblich prägten Fischer den Namen, als sie bei ihrer Rückkehr einen zerstörten Hafen vorfanden, obwohl sie auf See nichts bemerkt hatten. Beim bisher verheerendsten Tsunami kamen am zweiten Weihnachtstag 2004 schätzungsweise 230 000 Menschen ums Leben.

„Wenn das damals nicht passiert wäre, würden diese Wellen noch heute unterschätzt.“ Professorin Lori Dengler sitzt in ihrem Büro an der Humboldt State University in Arcata, 90 Autominuten südlich von Crescent City. Der winzige Raum ist vollgestopft mit Büchern und Akten, und wenn jemand 20 weitere anliefern würde, könnte sie ihr Büro nur noch durch das Fenster verlassen. Einen solchen Raum kann man einer Lehrkraft eigentlich nicht zumuten, aber wahrscheinlich hat sie sich nie beschwert, weil sie ohnehin so gut wie nie hier ist. Dengler gehört zu den weltweit renommiertesten Tsunami- und Erdbebenexperten. Sie sitzt im Flugzeug, sobald irgendwo die Erde gebebt hat. Wenn sie aber in ihrem Büro ist, kümmert sie sich um Crescent City. Und um die Frage, warum die Stadt Tsunamis anzieht wie das Licht die Motten.


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mare No. 111

No. 111August / September 2015

Von Stefan Nink und Gregory Gilbert-Lodge

Stefan Nink, Jahrgang 1965, Journalist in Mainz, war erstaunt, wie gut man in Crescent City auf Tsunamis vorbereitet ist. Im lokalen Supermarkt wurden Rettungspakete in diversen Ausführungen angeboten – inklusive Taschenlampe, aufziehbaren Transistorradios und wasserfesten Mobiltelefonen.

Gregory Gilbert-Lodge, geboren 1967, Grafikdesigner in Zürich, sah sich als Vorbereitung für seine zeichnerische Arbeit Fotos des Tsunamis von 1964 an, der die halbe Stadt verwüstete. „Man kann dankbar sein, dass heute durch den technischen Fortschritt die Tsunamifrüherkennung möglich geworden ist.“

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Vita Stefan Nink, Jahrgang 1965, Journalist in Mainz, war erstaunt, wie gut man in Crescent City auf Tsunamis vorbereitet ist. Im lokalen Supermarkt wurden Rettungspakete in diversen Ausführungen angeboten – inklusive Taschenlampe, aufziehbaren Transistorradios und wasserfesten Mobiltelefonen.

Gregory Gilbert-Lodge, geboren 1967, Grafikdesigner in Zürich, sah sich als Vorbereitung für seine zeichnerische Arbeit Fotos des Tsunamis von 1964 an, der die halbe Stadt verwüstete. „Man kann dankbar sein, dass heute durch den technischen Fortschritt die Tsunamifrüherkennung möglich geworden ist.“
Person Von Stefan Nink und Gregory Gilbert-Lodge
Vita Stefan Nink, Jahrgang 1965, Journalist in Mainz, war erstaunt, wie gut man in Crescent City auf Tsunamis vorbereitet ist. Im lokalen Supermarkt wurden Rettungspakete in diversen Ausführungen angeboten – inklusive Taschenlampe, aufziehbaren Transistorradios und wasserfesten Mobiltelefonen.

Gregory Gilbert-Lodge, geboren 1967, Grafikdesigner in Zürich, sah sich als Vorbereitung für seine zeichnerische Arbeit Fotos des Tsunamis von 1964 an, der die halbe Stadt verwüstete. „Man kann dankbar sein, dass heute durch den technischen Fortschritt die Tsunamifrüherkennung möglich geworden ist.“
Person Von Stefan Nink und Gregory Gilbert-Lodge