Wunder aus Worcester

Das 19. Jahrhundert ist eine geschmacklose Zeit – bis eine fischige Würze aus England die Welt erobert

Auf manche Ideen muss die Welt lange warten. Und wenn sie endlich geboren sind, bedürfen sie keiner weiteren Erklärung, keiner Werbung, nichts – denn sie sind schon nicht mehr wegzudenken. Wie die Worcestersauce.

Um Himmels willen, werden Sie einwenden, was hat die denn mit dem Meer zu tun? Auf die Antwort kommt es längst nicht mehr an, und damit sind wir beim Kern der Sache: Der Griff zur Würze aus Worcester ist, bei Engländern und Amerikanern allemal, ein kulinarischer Reflex, keine bewusste Entscheidung. Ob Fleisch oder Fisch, Salat oder Suppe – Worcesters Würze, so steht es doch im Kochbuch, verleiht den „pikanten Glanz“. Aber wie? Wer überlegt sich noch, woraus die teerschwarze Tunke eigentlich besteht? Oder woher ihr einzigartiges sauerscharfes Aroma stammt?

Zugegeben: Der Hersteller macht es einem bei konkreten Fragen nicht leicht. Wo andere den Koch und seine Kreation rühmen, verweisen die Saucenbrauer auf ihre Legende. „From the Recipe of a Nobleman in the County“, verraten die ersten Etiketten, und die offizielle Biografie der Würze – „The Secret Sauce“ – liefert eine Geschichte dazu, die so charmant klingt, dass man sie unbedingt glauben möchte.

Um 1835 soll ein gewisser Marcus Lord Sandys die Apotheke in Worcester betreten haben. Die Inhaber, John Wheeley Lea und William Henry Perrins, sind bekannt dafür, auch exotische Zutaten aus den entlegenen Winkeln des Kolonialreichs immer vorrätig zu haben. Zu ihren Verkaufsschlagern zählen Teraxacum-Kaffee (aus Löwenzahn), Knochenmarkpomade (bei widerspenstigem Haar) und Amputationswerkzeug (für Schiffsärzte). Sandys jedenfalls legt ein Rezept vor, das er aus Indien mitgebracht hat, und die Apotheker setzen die Mixtur in zwei Krügen an – eine für den Lord und eine für den eigenen Gebrauch. Sie mischen Malz- und Branntweinessig, geben Melasse und Salz hinzu, außerdem Nelken, Tamarindenmus, Koriander, Ingwer, Piment, Chili, Schalotten, Knoblauch – und reichlich Anchovis. Ah, das Meer.

Lea und Perrins kosten und sind entsetzt, ein garstiges Gebräu. Seltsamerweise bewahren sie die misslungene Brühe auf. Ob sie dem Auftraggeber gemundet hat, ist nicht überliefert, möglicherweise kannte der Lord das Geheimnis der Rezeptur, das die Apotheker Jahre später beim Ausräumen ihres Kellers entdecken. Da stecken Lea und Perrins nämlich ihre Löffel todesmutig aufs Neue in die Sauce – siehe da, nun schmeckt sie vorzüglich.

Die pikante Melange trifft den Geschmack der Zeit; sie findet solch reißenden Absatz, dass sich Lea und Perrins bald ganz auf die Produktion ihrer fischigen Tunke verlegen. Am Verfahren hat sich bis heute wenig geändert: alle Zutaten in einen Bottich, reifen lassen, filtern, abfüllen, fertig. Nur werden inzwischen Zwiebeln, Knoblauch und Anchovis verwendet, die schon ein paar Jahre in Salzlake ziehen, was die Reifezeit auf sechs bis sieben Wochen verkürzt. Die genaue Zusammensetzung unterliegt dabei bis heute strikter Geheimhaltung; nie sind mehr als vier Menschen eingeweiht, was die mysteriöse Aura der Marke natürlich nur vergrößert.

Zum Erfolg hat nicht zuletzt auch eine ungewöhnliche Vertriebsidee beigetragen: Den Apothekern gelingt es auf Anhieb, ihre Sauce auf den Schiffen wichtiger Reedereien zu platzieren; in jeder Kombüse steht die Würze, auf jedem Tisch im Salon, und die Kellner sorgen dafür, dass die Passagiere auch ja das Wunder aus Worcester probieren. Lea & Perrins dürfte eine der ersten internationalen Marken gewesen sein, die alle Kontinente erobert hat.

Als Globetrotter der Meere hat die Sauce den Nachfolgern von Lea und Perrins noch einige erlesene Qualitätsproben beschert. Regelmäßig gehen in Worcester unansehnlich verkrustete Flaschen der Würze ein, die aus Wracks geborgen wurden. Im Mai 1918 etwa kam der Frachter „Kyarra“ einem deutschen U-Boot in die Quere; sieben Minuten später lag er auf dem Meeresgrund und mit ihm eine frische Lieferung aus Worcester. 1989 brachten Taucher den Schatz zurück an die Oberfläche – und die Experten aus Worcester erwiesen sich als würdige Nachfahren von Lea und Perrins: Unverzagt dippten sie den Löffel in die 70 Jahre alte Sauce und erklärten: „Excellent.“


Ernest Hemingway „Bloody Mary"

Zubereitung

„Nimm einen großen Krug (sonst lohnt sich die Mühe nicht) und gebe folgende Zutaten hinein:
einen Klotz Eis, so groß, dass er gerade noch in den Krug passt, ein Pint (guter halber Liter) Wodka, ein Pint eisgekühlten Tomatensaft, einen Esslöffel Worcestersauce, einen Jigger frisch gepressten Limettensaft (etwa drei Esslöffel), eine Prise Selleriesalz, eine Prise Cayennepfeffer, eine Prise schwarzen Pfeffer, ein paar Tropfen Tabasco.
Immer wieder umrühren und probieren, wie der Cocktail gelingt. Wenn er zu mächtig wird, verdünne ihn mit Tomatensaft. Wenn ihm die Kraft fehlt, gieße noch Wodka nach."
Ernest Hemingway in einem Brief an Bernard Peyton am 5. April 1947

mare No. 51

No. 51August / September 2005

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

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Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.
Person Von Olaf Kanter
Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.
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