Wo die Lotsen warten

Das Restaurant der Geleitmänner in Brunsbüttel bietet Küche nach Hausfrauenart – doch zu besonderen Anlässen kommt nicht Fisch, sondern ein Kapaun auf den Tisch

Das „Industriegebiet Süd“ ist ein Konglomerat riesiger Raffinerietürme mit verschlungenen Rohrleitungen, haushohen Öltanks und Blechquadern, aus denen kilometerlange Förderarme zum Nord-Ostsee-Kanal hinüberlangen. Doch vor der Kanalfähre führt ein Weg an der Schleuse vorbei zum Lotsenhaus. Dort malmen Schafe Deichgras, und die Elbe fließt breit, silbergrau und zäh. Das andere Ufer verdunstet am Horizont. Wie auf Perlenschnüre gereiht fahren die Schiffe vorbei. Mitunter schert eines aus und dreht den Bug in Richtung Kanal.

Hamburg – Brunsbüttel und zurück: Das ist die Tour der Elblotsen. Brunsbüttel – Deutsche Bucht und retour: Das ist die Tour der Seelotsen. In Brunsbüttel wechseln sich die Kollegen ab oder warten im Lotsenhaus aufeinander, manchmal vier, manchmal zwölf Stunden. Deshalb gibt es hier Büros, Einsatz- und Warteräume, an die fünfzig Betten und ein – auch für das Publikum geöffnetes – Restaurant.

Kaiser Wilhelm als Kanalbauer wäre passender, aber von der Wand des Speiseraumes überwacht Feldmarschall Hindenburg die Gäste und Lotsen. Um ihn herum etliche Seestücke, unter ihnen zieht sich eine lotsenhohe Holztäfelung entlang. Auch die Decke ist getäfelt. Messinglampen baumeln über den soliden Tischen, der Raum ist nüchtern und gemütlich zugleich. Frischer Seewind sorgt für Durchzug. Die Fenster gehen zum Wasser hinaus, zur Kanalschleuse und zur Elbe. Lauschig ist der kleine Nebenraum, die „Aalbörse“. Hier haben früher die Fischer ihre Fänge verhökert. In der Aalbörse können vierzehn Gäste sitzen, im Speiseraum drei Dutzend.

„Die Leute kommen nicht nur hierher, um Fisch zu essen“, weiß Mirco Voigt, 32: „Manche träumen auch nur zum Fenster hinaus.“ Seit Januar ist er der Lotsenwirt. Gepachtet hat er das Restaurant von der Lotsenbrüderschaft Elbe, dem Zusammenschluss der knapp dreihundert Elb- und Seelotsen. „Natürlich wird bei jeder Zusammenkunft wieder die Frage aufgeworfen, ob wir weitermachen sollen“, erklärt Wolfgang Leue, 55, Obmann für den Lotsenbezirk 2, die Elbe. „Aber dann halten wir doch daran fest. Wir leisten uns dieses Restaurant, um den Lotsen geregelte Mahlzeiten zu bieten, und nutzen es gleichzeitig als Aushängeschild.“

Mit seinen Maischollen hat Mirco Voigt Eindruck gemacht. Matjes kommt bei ihm erst Mitte Juni auf den Tisch: „Vorher ist der noch nicht ausgereift.“ Die Speisekarte richtet sich nach der Jahreszeit. Wer partout keinen Fisch mag, findet eine kleine Auswahl von Fleischgerichten. Vegetarier müssen sich beim Wirt melden.

Die Küche geht nach Hausfrauenart. Schließlich sind die Lotsen die Hausherren. Der Lotsenwirt ist verpflichtet, mittags und abends ein preiswertes Tellergericht anzubieten. Deshalb gibt es Kassler mit Sauerkraut, Matjes mit Salzkartoffeln, Rotbarschfilet mit selbstgemachtem Kartoffelsalat: Speisen, die die Lotsen mögen. Die sitzen zwischen zwölf und eins brav an ihrem Tisch neben dem Tresen und mampfen. Auch die Gäste können das Lotsenmenü bestellen. Für sie kostet es 17 Mark 50, mit Suppe und Nachspeise. Lotsen haben es fünf Mark billiger.

Die Wirte haben Dynastien gebildet. Familie Inselmann betrieb die alte Böschstation ein paar Kilometer elbaufwärts, die ihren Namen vom Lotsenschiff „Bösch“ erhalten hat. Die Inselmanns zogen 1895, als der Kanal fertig war, ins heutige Lotsenhaus ein und führten das Restaurant bis nach dem 2. Weltkrieg. Der Gast Frank Kuppe, 51, erinnert sich noch an die Zeiten von Tante Hertha, als das Restaurant abends überquoll von Cuxhavener See- und Hamburger Elblotsen. Heute ist das anders, auch Lotsen ziehen sich ins Private zurück. Kuppe, selber Lotse, macht dafür die Individualisierung verantwortlich: „Heute funken wir ein vorbeifahrendes Schiff an und bitten, dass es den Lotsen mit nach Cuxhaven nimmt.“ Ab zu Muttern, gefeiert wird zu Hause.

Dennoch hat eine besondere Tradition den Wechsel der Wirte und der Zeiten überdauert. Zu besonderen Festtagen, wenn ein Lotse pensioniert wird oder einen runden Hochzeitstag feiert, muss der Wirt „Reis und Curry“ zubereiten, nicht mit Fisch, sondern mit Kapaun. Frank Kuppe nennt das Gericht mit dem kastrierten Hahn die „Nagelprobe“ für jeden Lotsenwirt und fordert: „Der gute Wirt muss das bringen.“ Niemand weiß, wie das Rezept für diese Speise ins Lotsenhaus gekommen ist. Vermutlich hat es ein kochbegeisterter Vorfahr auf einem philippinischen Dampfer aufgeschnappt. Denn das Gericht ist exotisch, die Beigaben aber sind dem Lotsengeschmack angepasst und so unterschiedlich, dass kein Wunsch offenbleibt (siehe Rezept). Auch für Gäste bietet der Lotsenwirt „Reis und Curry“ an, nach Vorbestellung und ab acht Personen. Für weniger Leute lohne der Aufwand nicht, sagt er.

Elbaufwärts gleitet im Gegenlicht ein riesiges Containerschiff, vor der Kanalschleuse tuckert ein Schlickfänger. Beim Verdauungsspaziergang leisten die Schafe Gesellschaft. Die malmen noch und gucken neugierig. Zweibeiner ohne Schiff finden sie hier ungewöhnlich.


Reis und Curry

Zutaten für acht Personen

1 Kapaun, 1,5 kg, Muskatnuß, Pfeffer, Lorbeer, frisches Suppengrün (Sellerie, Lauch, Möhren). 500 g Blackwell-Curry, Basmati-Reis nach Bedarf.

Beilagen

300 g Wilstermarsch-Käse, 300 g Salami, 1 Glas Rote Beete, 1 Dose Ölsardinen, 250 g Kokosflocken, 5 hartgekochte Eier, 1 Glas Gewürzgurken, Krupuk (Krabbenchips), 250 g Schalotten, 1 Glas Mango-Chutney.

Zubereitung

Den Kapaun mit Muskatnuss, Pfeffer, Lorbeer und Suppengrün wie ein Suppenhuhn kochen. Blackwell-Curry in heißem Pflanzenöl abbrennen. Anschließend mit etwa 4 Liter Fond vom Kapaun auffüllen. Aufkochen, mit aufgelöster Maisstärke etwas andicken. Mit Salz, Pfeffer und Curry abschmecken, Schärfe: medium. Den Kapaun enthäuten, entbeinen und in mundgerechte Stücke schneiden. Die Beilagen in feine Würfel schneiden, Kantenlänge unter 1 Zentimeter. Beilagen nicht vermischen. Die Fleischstücke in eine Schüssel legen, darüber die Blackwell-Curry-Soße gießen. Die Beilagen werden in extra Schüsseln um den Kapaun herum angerichtet. Dazu den Basmati-Reis, der sehr trocken sein muss.


Restaurant Lotsenhaus
Pächter: Mirco Voigt, Cuxhavener Straße 15, 25541 Brunsbüttel, Tel./Fax 04852/8545,
Öffnungszeiten: täglich 11 Uhr 30 bis 14 Uhr, 17 Uhr 30 bis 21 Uhr, ganzjährig, wie die Lotsen es brauchen. An Heiligabend und Neujahr für das Publikum nicht geöffnet.

mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Manfred Goldbeck und Stefan Pielow

Manfred Goldbeck, Jahrgang 1947, ist freier Journalist in Hamburg.

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen. Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg. 
Für mare reiste Pielow seit Mitte der 90er Jahre an besonders exotische Orte, von den Bahamas bis zum Nordkap. 2011 erschien der mare Bildband NEW YORK, für den Pielow Bewohner der Stadt am Meer portraitierte. 2016 produzierte er zusammen mit dem mareverlag das Buch: MEIN SCHIFF ENTSTEHT für die TUI Cruises GmbH.

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Vita Manfred Goldbeck, Jahrgang 1947, ist freier Journalist in Hamburg.

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen. Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg. 
Für mare reiste Pielow seit Mitte der 90er Jahre an besonders exotische Orte, von den Bahamas bis zum Nordkap. 2011 erschien der mare Bildband NEW YORK, für den Pielow Bewohner der Stadt am Meer portraitierte. 2016 produzierte er zusammen mit dem mareverlag das Buch: MEIN SCHIFF ENTSTEHT für die TUI Cruises GmbH.
Person Von Manfred Goldbeck und Stefan Pielow
Vita Manfred Goldbeck, Jahrgang 1947, ist freier Journalist in Hamburg.

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen. Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg. 
Für mare reiste Pielow seit Mitte der 90er Jahre an besonders exotische Orte, von den Bahamas bis zum Nordkap. 2011 erschien der mare Bildband NEW YORK, für den Pielow Bewohner der Stadt am Meer portraitierte. 2016 produzierte er zusammen mit dem mareverlag das Buch: MEIN SCHIFF ENTSTEHT für die TUI Cruises GmbH.
Person Von Manfred Goldbeck und Stefan Pielow