Wir sind die Neue Welt

Auswandern nach New York? Da galt es eine letzte Hürde zu bewältigen: die Immigrationskontrollen auf Ellis Island

fünf Millionen Auswanderer aus Italien
vier Millionen Auswanderer aus Irland
eine Million Auswanderer aus Schweden
sechs Millionen Auswanderer aus Deutschland
drei Millionen Auswanderer aus Österreich und Ungarn
drei Millionen fünfhunderttausend Auswanderer aus Russland und der Ukraine
fünf Millionen Auswanderer aus Großbritannien
achthunderttausend Auswanderer aus Norwegen
sechshunderttausend Auswanderer aus Griechenland
vierhunderttausend Auswanderer aus der Türkei
vierhunderttausend Auswanderer aus den Niederlanden
sechshunderttausend Auswanderer aus Frankreich
dreihunderttausend Auswanderer aus Dänemark

während all dieser Jahre fuhren die Dampfschiffe der Cunard Line, der Red Star Line, der Anchor Line, der Italian Line, der Hamburg-Amerika-Linie, der Holland-America-Linie kreuz und quer über den Nordatlantik (…)

die Schiffe hießen die Darmstadt, die Fürst Bismarck, die Staatendam, die Kaiser Wilhelm, die Königin Luise, die Westernland, die Pennland, die Böhmen, die Polynesia, die Prinzessin Irene, die Princeton, die Umbria, die Lusitania, die Adriatic, die Coronia, die Mauretania, die San Giovanni, die Giuseppe Verdi, die Patricia, die Duca degli Abruzzi, die New Amsterdam, die Martha Washington, die Turingia, die Titanic, die Lidia, die Susquehanna, die Albert-Ballin, die Hansington, die Columbus, die Reliance, die Blücher

doch die meisten von denen, die nach ihrer aufreibenden Reise das aus dem Nebel auftauchende Manhattan entdeckten, wußten, daß ihre
Prüfung noch nicht zu Ende war

sie mußten noch durch Ellis Island, jene Insel, die man in allen Sprachen Europas die Träneninsel genannt hat

île des larmes
wyspa lez
island of tears
isola delle lacrime

es ist eine kleine, vierzehn Hektar große Insel, einige hundert Meter von der Spitze Manhattans entfernt.
die Indianer nannten sie die Möweninsel, und die Holländer die Austern-
insel

ihr erster Besitzer war ein reicher holländischer Reeder namens Paw,
dann ein gewisser Kapitän Dyre, Zolleinnehmer,
dann ein Thomas Lloyd,
1765 wurde ein Pirat mit Namen Anderson hier aufgehängt
und etwa zehn Jahre lang
hieß die kleine Insel die Galgeninsel,
dann kaufte sie der Mann, der ihr für immer seinen Namen geben sollte,
Samuel Ellis

er hinterließ sie seinem Enkel,
der sie an einen gewissen John Berry weiterverkaufte,
welcher sie der Stadt New York abtrat,
die sie schließlich für zehntausend Dollar
der Bundesregierung verkaufte.

Während des Sezessionskrieges und danach war sie ein Munitionsdepot

dann, gegen 1890,
beschloß das Amt für Einwanderung,
hier ein Auffanglager zu bauen,
das an die Stelle der zu klein gewordenen Gebäude von Castle Garden
kommen sollte


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mare No. 54

No. 54Februar / März 2006

Von Georges Perec und Augustus F. Sherman

Augustus F. Sherman (1865–1925)

Als 1892 auf Ellis Island die Immigrationskontrollstelle etabliert wurde, gehörte Augustus F. Sherman zu den ersten Büroangestellten auf der Insel vor New York. Der junge Mann war ein talentierter Amateurfotograf, und 1905 begann er mit seiner Porträtserie über die Ankömmlinge aus aller Welt. Während 15 Jahren entstanden mehr als 250 Fotografien von Immigranten. Es sind Bilder von Alleinstehenden, Gruppen, Familien, oft in Tracht oder Berufskleidung, sorgfältig komponiert. Shermans Arbeit war nicht unproblematisch, denn Amerika diskutierte heftig, welche Einwanderer überhaupt erwünscht waren. Shermans Bilder gaben Anstoß zu Debatten und wurden gelegentlich auch für die Argumentation der Einwanderungskritiker missbraucht. Jetzt hat die New Yorker Aperture Foundation ein Buch mit dem Titel Ellis Island Portraits 1905–1920 herausgegeben.

Georges Perec (1936–1982)

Warum macht sich ein Franzose, der nicht Amerikaner geworden ist, auf die Suche nach den Spuren der amerikanischen Einwanderer? Perecs Eltern waren polnische Juden in Frankreich. Der Vater starb im Zweiten Weltkrieg, der Weg der Mutter verliert sich im Konzentrationslager Auschwitz. Perec war mit sieben Jahren ein Waise, ein verlorenes Geschöpf, stets auf der Suche nach Geschichte und Identität, getragen von dem Gefühl der Entwurzelung. 1979 drehte er gemeinsam mit Robert Bober einen Film über den geschichtsträchtigen Ort Ellis Island. Ein Jahr später veröffentlichte er ein Buch über die Einwanderer, die durch die Einwanderungsbehörde auf der Insel geschleust wurden. Ein Buch, das sowohl die Sprachgewalt des experimentellen Dichters – berühmt wurde er als Autor eines Romans, geschrieben ohne einen einzigen Buchstaben E – als auch den politischen Anspruch des Soziologen in sich vereint. Ein großartiges, poetisches Werk, das auf Deutsch im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist. zdb

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Vita Augustus F. Sherman (1865–1925)

Als 1892 auf Ellis Island die Immigrationskontrollstelle etabliert wurde, gehörte Augustus F. Sherman zu den ersten Büroangestellten auf der Insel vor New York. Der junge Mann war ein talentierter Amateurfotograf, und 1905 begann er mit seiner Porträtserie über die Ankömmlinge aus aller Welt. Während 15 Jahren entstanden mehr als 250 Fotografien von Immigranten. Es sind Bilder von Alleinstehenden, Gruppen, Familien, oft in Tracht oder Berufskleidung, sorgfältig komponiert. Shermans Arbeit war nicht unproblematisch, denn Amerika diskutierte heftig, welche Einwanderer überhaupt erwünscht waren. Shermans Bilder gaben Anstoß zu Debatten und wurden gelegentlich auch für die Argumentation der Einwanderungskritiker missbraucht. Jetzt hat die New Yorker Aperture Foundation ein Buch mit dem Titel Ellis Island Portraits 1905–1920 herausgegeben.

Georges Perec (1936–1982)

Warum macht sich ein Franzose, der nicht Amerikaner geworden ist, auf die Suche nach den Spuren der amerikanischen Einwanderer? Perecs Eltern waren polnische Juden in Frankreich. Der Vater starb im Zweiten Weltkrieg, der Weg der Mutter verliert sich im Konzentrationslager Auschwitz. Perec war mit sieben Jahren ein Waise, ein verlorenes Geschöpf, stets auf der Suche nach Geschichte und Identität, getragen von dem Gefühl der Entwurzelung. 1979 drehte er gemeinsam mit Robert Bober einen Film über den geschichtsträchtigen Ort Ellis Island. Ein Jahr später veröffentlichte er ein Buch über die Einwanderer, die durch die Einwanderungsbehörde auf der Insel geschleust wurden. Ein Buch, das sowohl die Sprachgewalt des experimentellen Dichters – berühmt wurde er als Autor eines Romans, geschrieben ohne einen einzigen Buchstaben E – als auch den politischen Anspruch des Soziologen in sich vereint. Ein großartiges, poetisches Werk, das auf Deutsch im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist. zdb
Person Von Georges Perec und Augustus F. Sherman
Vita Augustus F. Sherman (1865–1925)

Als 1892 auf Ellis Island die Immigrationskontrollstelle etabliert wurde, gehörte Augustus F. Sherman zu den ersten Büroangestellten auf der Insel vor New York. Der junge Mann war ein talentierter Amateurfotograf, und 1905 begann er mit seiner Porträtserie über die Ankömmlinge aus aller Welt. Während 15 Jahren entstanden mehr als 250 Fotografien von Immigranten. Es sind Bilder von Alleinstehenden, Gruppen, Familien, oft in Tracht oder Berufskleidung, sorgfältig komponiert. Shermans Arbeit war nicht unproblematisch, denn Amerika diskutierte heftig, welche Einwanderer überhaupt erwünscht waren. Shermans Bilder gaben Anstoß zu Debatten und wurden gelegentlich auch für die Argumentation der Einwanderungskritiker missbraucht. Jetzt hat die New Yorker Aperture Foundation ein Buch mit dem Titel Ellis Island Portraits 1905–1920 herausgegeben.

Georges Perec (1936–1982)

Warum macht sich ein Franzose, der nicht Amerikaner geworden ist, auf die Suche nach den Spuren der amerikanischen Einwanderer? Perecs Eltern waren polnische Juden in Frankreich. Der Vater starb im Zweiten Weltkrieg, der Weg der Mutter verliert sich im Konzentrationslager Auschwitz. Perec war mit sieben Jahren ein Waise, ein verlorenes Geschöpf, stets auf der Suche nach Geschichte und Identität, getragen von dem Gefühl der Entwurzelung. 1979 drehte er gemeinsam mit Robert Bober einen Film über den geschichtsträchtigen Ort Ellis Island. Ein Jahr später veröffentlichte er ein Buch über die Einwanderer, die durch die Einwanderungsbehörde auf der Insel geschleust wurden. Ein Buch, das sowohl die Sprachgewalt des experimentellen Dichters – berühmt wurde er als Autor eines Romans, geschrieben ohne einen einzigen Buchstaben E – als auch den politischen Anspruch des Soziologen in sich vereint. Ein großartiges, poetisches Werk, das auf Deutsch im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist. zdb
Person Von Georges Perec und Augustus F. Sherman