„Wir leben vom Appetit unserer Feinde“

Spannende Nachbarschaft: Israelis und die Fischer von Gaza

Das Meer ist stumm. Wie eine Glocke hat sich die Stille vor 32 Jahren über Abu Khalid gestülpt und ihn eingeschlossen. Seitdem spricht die See im Lauf der Wellen, in ihrem Geruch und in ihren Farben zu ihm. Nur wenn sich im Herbst die Gewitter entladen und der Donner über das Meer hallt, erreicht ihn auch die Welt des Klangs.

Abu Khalid kniet am Strand vor einem Haufen aus Kork und Blei und Nylon. Das Haar des 58-jährigen ist schwarz wie Rabenflügel und sein Gesicht eine Landschaft aus Furchen und Falten. Der Wind vom Meer hat sich in seinem Umhang, der Galabiya, verfangen, und das blasse Tuch des Himmels überspannt das Wasser, den Hafen der Fischer und die Stadt Gaza, die im Licht des frühen Morgens aussieht, als sei sie aus einem grauen Teig geknetet.

Abu Khalid entwirrt den Netzhaufen. Mit seinen Piratenhänden, die Messerschnitte, Striemen von Tauen und Risse von Haken tätowieren, rupft er Muschelschalen, Zigarettenkippen, Plastikfetzen aus den Maschen und wirft sie in den Sand. „Die Delfine sind unsere Feinde“, sagt er und zeigt auf kopfgroße Löcher im Geflecht. Die Stimme von Abu Khalid klingt weich und brüchig. Und wie viele Schwerhörige zerkaut er die Worte und schluckt die Endungen, sodass der Sinn seiner Sätze manchmal rätselhaft bleibt.

Am Himmel zeigt sich ein erster Streifen Rot. Hinter der Silhouette von Gaza geht die Sonne auf. In einem abgesägten Ölfass entfacht Abu Khalid ein Feuer. Er legt einen Rost über die Flammen und setzt eine Kanne mit Teewasser auf. Dann setzt er sich in den Sand und starrt auf das stumme Meer. Abu Khalid wartet. Sein Tag besteht aus kleinen Tätigkeiten und Warten. So ist es heute. So ist es morgen.

Mit der Sonne erwachen die Fliegen. Der Strand hellt sich auf, und die Farbe des Sandes erinnert an Safran. Tautropfen blitzen, Tupfer funkelnden Lichts. Als die Sonne das Meer erreicht und auf den Kämmen der Wellen in Scherben zerbricht, läuft die „Jerusalem“ in die Brandung.

Abu Khalid erhebt sich. Er stapft durch den Sand ans Meer, und in seiner flatternden Galabiya gleicht er einem Vogel. Munzur und Khalid, der jüngste und der älteste Sohn von Abu Khalid, stehen im Wasser. Im Rhythmus der Wellen schieben sie die „Jerusalem“, kaum mehr als ein Ruderboot mit Außenborder, auf den Strand von Gaza. Dann küssen die Söhne die Hand des Vaters. Im Bug des Boots zappeln ein paar Sardinen, Weißbrassen, Makrelen. Nur wenige Fische haben sich in dem Stellnetz verfangen, das Munzur und Khalid am vergangenen Abend ausgebracht haben.

„Das Meer ist leer!“, schreit Munzur. Der schwerhörige Vater hat seine Stimmen laut gemacht. „Malisch“, sagt Abu Khalid. „Macht nichts.“ Aber in seinem Gesicht liegt ein gequälter Ausdruck, als er die Fische vom Boot klaubt. „Allah liebt uns“, sagt er dann. „Er schickt uns die Strafe schon vor der Sünde.“

Von allen Seiten nähern sich kleine Motorboote aus Holz und Glasfiber der Küste und pflügen schäumende Gassen in die See. Fetzen aus Dieselrauch wehen über das Wasser. Ein paar Meter vor dem Ufer klappen die Fischer die Außenborder hoch, und für einen Moment tanzen die Boote wie Enten im Auf und Ab der Wellen. Schließlich laufen sie auf den Sand. Mit leeren Körben und Netzen.

Abu Khalid und seine Söhne hocken um das Ölfass unter dem Vordach ihrer Strandhütte. Der Holzschuppen ist eingesunken, der Sandboden hat nachgegeben, und in den schiefen Wänden klaffen Löcher. Munzur nimmt die Fische aus, legt sie auf den Eisenrost über die Glut der Kohlen. Ein wenig später essen die Söhne den Fang des Morgens. Dann verlassen sie ihren Vater und schaukeln auf dem Eselskarren nach Schati. Seit 45 Jahren lebt die Familie von Abu Khalid in Schati, einem der Flüchtlingslager, die Gaza-Stadt umschlingen wie eine Boa ihre Beute.

Dünne Wolken haben sich vor die Sonne geschoben und dämpfen ihr Licht. Abu Khalid hält die Kappe eines Kugelschreibers zwischen den Lippen. Auf seinen Knien liegt ein blaues Buch, in dessen Seiten der Wind blättert. Es ist das „Buch der Familie“. Dort hält Abu Khalid den Fang eines jeden Tages fest und die Aufteilung der Einnahmen innerhalb der Familie. Gestern waren es 30 Kilo Sardinen und Makrelen. 600 Schekel, 280 Mark, brachte der Verkauf bei der Auktion in Gaza. Heute gibt es nichts zu verteilen. Heute macht Abu Khalid nur einen Strich, quer über die ganze Seite.

„Ich habe fünf Söhne und sechs Töchter. Auch sie haben Kinder. Und alle wollen essen. Aber das Meer ist zu klein.“

„Wie kann ein Meer zu klein sein?“

Abu Khalid greift mit der Hand in die Luft und schließt sie zur Faust. „Was ist in meiner Hand?“, fragt er.

„Nichts.“

„Nichts“, wiederholt er und lächelt. „Aber sogar in der Luft, die niemand fangen kann, und auf dem Wasser, wo sich keine Pflöcke einschlagen lassen, hat man Grenzen gezogen.“

Er nimmt ein Stück Holz, tupft zwei Dellen in den Sand und verbindet sie mit einer Linie. Die Dellen stehen für Gaza-Stadt im Norden und Rafa im Süden, und die Linie dazwischen markiert die 20 Meilen lange Küste des Gaza-Streifens.

„Das ist unser Strand.“ Dann schraffiert er einen winzigen Fleck Sand vor dem Strich. „Das ist unser Meer. Sechs Meilen lässt man uns hinaus.“

„Und wenn man weiter fährt?“

„Dann schießen die Soldaten der israelischen Küstenwache. Oder sie verprügeln dich, schleppen dein Boot nach Aschkelon und sperren dich für eine Woche ein.“

„Warum gerade sechs Meilen?“

„Das wissen allein die Israelis. Manchmal sind es auch acht, zehn oder sogar zwölf Meilen. Aber kein Fischer aus Gaza kennt die Regeln, nach denen unser Meer wächst und schrumpft. Einige waren zwölf Meilen draußen, und die Soldaten haben nur gewunken. Andere sind sieben Meilen gefahren und wurden beschossen. Irgendwann haben wir begriffen: ,Sechs Meilen sind sicher.‘“ In den israelisch-palästinensischen Verträgen ist dagegen von einer Zwölf-Meilen-Zone die Rede.


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mare No. 17

No. 17Dezember 1999 / Januar 2000

Von Walter Saller und Kai Wiedenhöfer

Walter Saller, Jahrgang 1958, hat in Kairo Arabisch studiert und als Korrespondent aus Nahost berichtet. In mare-Heft 15 erklärte er, „Wie das Indigo nach Europa kam“

Kai Wiedenhöfer, geboren 1966, hat ebenfalls Arabisch studiert – in Damaskus. Acht Jahre lang hat der Fotograf bei den Palästinensern in Gaza gelebt. Die Reportage über die Fischer von Gaza ist seine erste Arbeit für mare

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Vita Walter Saller, Jahrgang 1958, hat in Kairo Arabisch studiert und als Korrespondent aus Nahost berichtet. In mare-Heft 15 erklärte er, „Wie das Indigo nach Europa kam“

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