Wir Kinder von Givær

Im Norden Norwegens liegt eine Insel, auf der alle Menschen glücklich sind. Besucher denken: genau wie in Bullerbü

Es leben auf Givær fünf Kühe, ein Ochse, sechs Kälber, 13 Schafe, ein Widder, 30 Lämmer, 15 Menschen. Und 20 Hühner, mindestens. Und das weiße Zwergkaninchen. Es gibt keine Autos, keine Läden, keine Straßen. Die Häuser sind gelb, weiß oder rot, die Schafe auch schwarz. Von Weitem sieht die Insel aus wie ein riesiger Kuhfladen am Horizont. Wenn man die Insel betritt, weiß man nicht genau, was unter den Sohlen schmatzt. Es könnte Matsch sein, Schafskötel oder eben Kuhfladen. Man trägt viel Gummistiefel auf Givær.

Das Land ist karg hier oberhalb des nördlichen Polarkreises, unterhalb der Lofoten, nur Fels und Wiese, so karg, dass sie auf Givær selbst Bäume taufen. Olga, die Birke, war zehn Zentimeter groß, als Olga, die Namensgeberin, sie als Geschenk überreichte. Drei Jahre blieb Olga im Blumentopf, dann endlich durfte sie in den Garten, und sofort beugte sie der Wind. In mehr als 20 Jahren schaffte Olga knapp vier Meter und berührt noch immer nicht den Dachgiebel. Aber sie ist ein Baum, ein richtiger Baum, der einzige auf Givær. Die buschigen Gewächse, die sich an die Häuserwände drängen, zählen nicht.

Ja, karg ist das Land, das Gras reicht kaum für die Tiere, und manchmal stürmt es so, dass die Fenster blind werden vom Salz und das Meer die wenige Erde stiehlt. Aber ist es das Leben auch? In der alten Schule stehen noch die Lehrbücher im Regal. Gedichte mussten die Kinder von Givær lernen, eines von Einar Økland, das beginnt so: Norwegisch zu sein ist das Schönste, was es gibt / fast ein bisschen unheimlich, so viel Glück zu haben.

Am Türrahmen des ehemaligen Klassenzimmers kann man die verstrichene Zeit ablesen. Man sieht sie alle wachsen, Glenn: 1,22 Meter, 1,35 Meter, 1,37 Meter, eine Marke übertrumpft die andere, Sissel: 1,75 Meter, Bodil: 1,80 Meter. Heute sind sie längst keine Kinder mehr. Manche zogen aufs Festland, andere nur ein Haus weiter. Doch auch die, die weggingen, kommen immer wieder. Bodil und Sissel zum Beispiel, Schwestern, geborene Sivertsen, 28 und 23 Jahre alt, aufgewachsen im gelben Haus, wo die Mitternachtssonne ins Wohnzimmer scheint. Das Schiff aus Bodø bringt sie in ein, zwei Stunden nach Givær. Hier schwingen die Männer im Sommer die Sense, und die Sivertsen-Cousinen rollen das Nudelholz. Zwei Tage im Frühling, zwei Tage im Herbst backen sie Hunderte Fladen für alle Inselbewohner. Hier gehen die Schafe im Mai auf Seereise, brechen auf zu grüneren Ufern, und im Juni schwimmen die Kühe, paddeln wie die Hunde, aufgereiht wie die Enten, mit erhobenem Maul zur vorgelagerten Insel. So ist es, so war es jedes Jahr. „Ich bin stolz, von Givær zu sein“, sagt Bodil. Die meisten Leute fänden das exotisch.

Allein schon, wenn die Schwestern von ihrer Kindheit erzählen. Nach der Konfirmation durfte Sissel aufbleiben, so lange sie wollte, und manchmal, in diesen Sommernächten voller Licht, spielten sie Verstecken auf dem Dachboden des Bootshauses, dort, wo die Fischernetze von den Balken hängen, geflochten zu silbernen oder grünlich-bläulichen Zöpfen, schimmernd wie Prinzessinnenhaar, baumelnd, lianengleich. Um ein, zwei Uhr in der Früh kletterten sie die Zöpfe hoch, schwangen von Balken zu Balken, verbargen sich im Schaumbad, so nannten sie die riesigen, roten Bojen, die unterm Dach zu schweben schienen. Manchmal hörten sie dem Wind auch nur beim Heulen zu und erzählten einander Gespenstergeschichten oder sie bauten eine Bretterhütte in luftiger Höhe und rochen den ganzen Sommer nach Stockfisch. Der nämlich trocknete unterhalb ihrer Hütte in Reih und Glied, paarweise gebündelt, am Schwanz zusammengebunden, kopfüber.

Bei der Heuernte, wenn Hunderte Pfähle in den Boden gerammt und Drähte gespannt wurden zwischen den einzelnen Pflöcken, wenn ganz Givær durchzogen war von diesen Zäunen, auf denen das Gras trocknete wie auf einer ewig langen Wäscheleine, mussten sie ständig die Fußballfelder wechseln. Bei Juckreiz rieben sich die Kühe an den Toren, und schon musste man sie wieder reparieren. Doch hatten sie endlich mit Rhabarberblättern alle Kuhfladen von der Wiese entfernt, schossen sie mit Leidenschaft. Chris, einer der Brüder, kleiner als der Heuwall, trug immer das Ronaldo-Trikot. Acht Schüler waren sie zu Bodils Zeit auf Givær, und so spielten sie vier gegen vier, Jungs gegen Mädchen. Die Jungs gewannen immer, aber das wollten die Mädchen vorher nie glauben. „Langweilig“, sagt Bodil, „war uns nie.“

Einmal schrieben Glenn und Chris an die Stadtverwaltung von Bodø und beantragten Hühner als Hobby. Die hatte Geld versprochen, wenn Kinder sich im Sportverein engagieren. Nun gab es auf Givær aber keinen Sportverein, also zahlte die Behörde das Geflügel, und künftig sah man die Brüder, sieben und zehn Jahre alt, wie sie wechselnde Hennen liebkosten. Sie kraulten sie am Hals, verharrten minutenlang, Nase an Schnabel, in stillem Glück und schleppten sie am Nationalfeiertag mit zum Gemeindehaus. Während die Jungs draußen Hotdogs und Eiscreme verschlangen, hockten die Hennen auf ihrem Arm, jedes Tier geschmückt mit einer Bauchbinde in den norwegischen Nationalfarben. Die Eier übrigens verkauften die Brüder an ihre Verwandten, auch an die eigene Mutter.


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mare No. 63

No. 63August / September 2007

Von Sandra Schulz und Knut Egil Wang

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, suchte auf Givær stets den verborgenen Konflikt – vergeblich.

Knut Egil Wang, Jahrgang 1974, selbst aufgewachsen auf einer Farm, dokumentiert seit 1997 das Inselleben.

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, suchte auf Givær stets den verborgenen Konflikt – vergeblich.

Knut Egil Wang, Jahrgang 1974, selbst aufgewachsen auf einer Farm, dokumentiert seit 1997 das Inselleben.
Person Von Sandra Schulz und Knut Egil Wang
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Knut Egil Wang, Jahrgang 1974, selbst aufgewachsen auf einer Farm, dokumentiert seit 1997 das Inselleben.
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