Wir, Ahab

Das Drama von Rache und Hass in Melvilles Roman „Moby Dick“ lehrt uns bis heute die Mechanismen der Selbstradikalisierung

Still ruht das Meer, und was in seinen Tiefen tobt, sieht der Mensch nicht. Das Meer gibt sich einen ­Anschein von Unschuld, doch in seiner Unermesslichkeit wüten Dämonen. Angesichts der täuschenden Stille überkommt Ahab, den alten weißen Mann auf seinem Schiff, ein unbändiger Hass. Nichts geschieht, doch sein Fanatismus sucht Er­lösung. Der Mann muss sich rächen. Er muss jagen: Moby Dick, den alten weißen Wal, auf allen Ozeanen der Welt, mit scharfer Lanze, bis das Tier schwarzes Blut bläst und tot im Wasser treibt. 

Aber wer jagt und rächt warum? Wer in Ahab will Rache: sein Ego, das Bewusstsein, der Verstand – oder Gott? „Was ist das“, fragt der Kapitän des Walfängers „Pequod“ spürbar verzweifelt, „welch namenloses, unerforschliches, unirdisches Etwas, welch trügerischer, verborgener Herr und Gebieter, welch grausamer, erbarmungsloser Herrscher zwingt mich, dass ich mich gegen jede natürliche Regung von Liebe und Sehnsucht so unaufhörlich vorwärts treibe, vorwärts dränge, vorwärts stoße, mich ohne jede Rücksicht dazu bringe, das zu tun, was ich in meinem eignen, tiefsten Herzen noch nicht einmal zu denken wagte? Ist Ahab Ahab? Bin ich’s, ist’s Gott oder wer sonst, der diesen Arm erhebt?“

Ja, wer erhebt den Arm gegen das Leben? Ahabs Frage an sich selbst im Ringen um Schuld und Sühne auf dem Meer ist die exis­tenzielle Frage aller Zeiten: Wie kommt der Hass in den Menschen? Die anrührende Reflexion des ratlosen Kapitäns weist auf das ewige Drama menschlicher Existenz: auf die Tiefe des eigenen Abgrunds, die den Zivilisiertesten zum Töten treibt. 

Das Meer als ungestaltete Natur, als erbarmungsloses Neutrum und amoralische Macht hat als Projektionsfläche für Mythen und Ängste zur philosophischen Verhandlung seit biblischen Zeiten große Verführungskraft: Jona, Leviathan, Moby Dick. Die Wesen, die es hervorbringt, dienten der Verständigung der Menschheit über Werte, Normen und Tugenden. Der Wal als König der marinen Tierwelt wie zugleich als Inkarnation des Dämonischen steht für die gewaltfreie Gewalt der Natur, die der Mensch, da er ihrer anders nicht Herr wird, mit Technik und Kultur zu bewältigen versucht. Geht es nach Herman Melville und „Moby Dick“, scheitert er dabei an sich selbst. Wir, Ahab, sind im Prinzip allesamt Wutbürger auf irgendeinem Walfang.

Die unstillbare Rachsucht des Kapitäns in der Stille der Oze­ane ist die Leerstelle eines Lebens, das altersbedingt von Weisheit erfüllt sein sollte und von Gewaltfantasien getrieben wird. Für Starbuck hingegen, Ahabs Gegenspieler, den erfahrenen Steuermann der „Pequod“, ist der Wal kein schuldfähiges Wesen, sondern eine Kapitalanlage. Seine Organe, sein Tran, seine Knochen  – alles lässt sich verkaufen. „Aber ich bin hierher gekommen, um Wale zu jagen, nicht um meinen Kapitän zu rächen“, sagt Starbuck und fragt provokant: „Wieviel Fässer wird dir deine Rache bringen, wenn sie dir denn gelingt, Kapitän Ahab? Sie wird dir wenig einbringen auf Nantuckets Markt.“

Das ist die Crux an der Rache: Ihre Rendite kompensiert ein subjektives Defizit, erzielt darüber hinaus aber keine messbare Wertschöpfung. In ihrer rational geplanten Verblendung ist sie unerhört irrational. Was also antwortet der Rächer dem Ökonomen? „Nantuckets Markt – pah! Mann, wenn Geld das Maß ­aller Dinge sein soll […] so lass dir gesagt sein, wird meine Rache reichlich Zinsen tragen, und zwar hier!“

Ahabs Rach- und Starbucks Profitgier sind bis heute die antagonistischen Grundlagen unserer Kultur zwischen Markt und ­Moral, verbunden mit der Frage, ob der Kapitalismus die Moral zerstört oder sie erst schafft. In „Moby Dick“ konkurrieren letztlich zwei Arten der Frömmigkeit: Ahabs alttestamentliche, von Rache und Zorn getriebene wie andererseits Starbucks sublimierter Glaube an den kapitalistischen Götzen, dessen Vergeltung in „Gelt“ besteht – in Geld als nicht physischem, sondern virtuellem Opfer, in der durch Dollarscheine vergoltenen Schuld. 

„Rache an einem stummen Tier“, ruft Starbuck, „das einfach dich aus blindem Trieb getroffen! Ein Wahnsinn! Zu wüten gegen ein stummes Ding, Kapitän, erscheint mir grad wie Gotteslästerung.“

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mare No. 154

mare No. 154Oktober / November 2022

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als ­literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Unter seinen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die ­Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine ­Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als ­literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Unter seinen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die ­Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine ­Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als ­literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Unter seinen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die ­Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine ­Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Person Von Christian Schüle