Willi schreit beim ersten Schlag, der Meister legt sein Werkzeug nieder. Willi liegt auf dem Bauch in der Hütte, zwei Helfer, links und rechts, spannen seine Haut, draußen schweigt das Meer und brennt die Sonne auf Saleapaga, Insel Upolu, Westsamoa, Südsee. Der Meister fragt: „Willst du nun oder willst du nicht?“ Willi will. Der Meister sagt: „Dann hör auf zu schreien wie ein Weib.“
Aus einem Kassettengerät in der Hütte klingen die alten monotonen Lieder, die die Samoaner früher gesungen haben, um den Gezeichneten zu trösten und seine Schreie zu übertönen.
Du klagst und weinst, und wir singen für dich, so ist der Brauch seit allen Zeiten. Frauen müssen Kinder kriegen, Männer werden tätowiert. Schlag weiter, Meister, schlag zu.
Und der Meister treibt den scharf geschliffenen Eberzahn unter Willis weiße Haut.
Im Winter sucht Wilhelm Beeler Skischuhe für Kundenfüße aus, im Skiverleih „Gaffner Sport“ in Tannenboden, seinem Geburtsort, 1391 Meter überm Meer, Flumserberg, Sarganserland, Schweiz, und manchmal bringt er Touristen den Stemmbogen bei. „Zum Geldverdienen mache ich das“, sagt Willi, zuckt mit den Schultern, „man muss ja von etwas leben.“ Da sitzt er, in der Arvenstube vom Restaurant „Pöstli“. Er sieht aus wie irgendeiner hier oben: Holzfällerhemd, Oberlippenbart, eine Weste aus Fleece, am Handgelenk eine Taucheruhr. Er sagt: „Ich kann nur entweder auf dem Berg sein oder am Meer. Aber das Flachland, das halte ich nicht aus.“
Hör auf zu weinen, sei still. Dein Schmerz ist nicht der Schmerz des Kranken, es ist der Schmerz des Neugeborenen. Schlag weiter, Meister, schlag zu.
Als Kind sammelt Willi die Mondo- und die Silva-Marken, die auf allen Lebensmitteln stehen, und tauscht sie gegen bunte Bildbände ein, über Indien, Neuseeland, Hawaii, im holzgetäfelten Kinderzimmer erobert er die Welt. „Das Hulahulazeug“, sagt Willi, „hat mich immer fasziniert.“ Doch Willi wird Schreiner, Bauer, Fabrikarbeiter, wie die anderen auch. Er denkt: Das kann es nicht sein, es muss noch etwas anderes geben. Er kündigt und kauft sich ein Ticket. Alaska, Mexiko, Tahiti, Australien, Indonesien, zwei Jahre ist er unterwegs, allein. Zurück in der Schweiz, bedient er in der Firma Flumroc in Flums, Wärmedämmprodukte aus Steinwolle, den Computer und lässt sich einen Indianerkopf auf die rechte Schulter tätowieren, tut gar nicht weh.
Wie Wasser fließt dein Blut, wir fühlen Mitleid. Und wäre dein Schmerz ein schwerer Stein, wir trügen ihn für dich. Schlag weiter, Meister, schlag zu.
Willi, 1994, kauft sich einen Bausatz des Dreimasters „Bounty“ und macht die Segelschule auf dem Walensee. „Die Schifffahrt“, sagt er, „hat mich schon immer gereizt.“ Aufs Meer will er, aufs Meer. Willi wird Skipper, er überführt Yachten von einem Kontinent zum nächsten. Wieder daheim, renoviert er das Alphaus der Eltern, hört Volksmusik und mäht in steilen Hängen das Gras. Es muss noch etwas anderes geben.
Der Meißel ritzt, der Hammer geht nieder, die Farbe brennt sich ein, dass sie für immer bleibt. Schlag weiter, Meister, schlag zu.
Willi will, dass etwas läuft. Er kündigt Wohnung, Versicherung, Krankenkasse und reist mit einem Freund an den Yukon, 1999. Sie kaufen zwei Kanus und paddeln gut 1000 Kilometer weit. Im Winter wird Willi Schlittenhundpfleger und geht auf Elchjagd. Wieder zu Hause, gibt Willi den Skilehrer und den Wanderführer, und er liebt, wer immer ihn lieben mag, doch nie für lang. Es geht ihm, sagt er, mit den Frauen wie mit den Ländern: Ist er da, will er dorthin; ist er dort, will er dahin. In Zürich lässt er sich einen Skorpion auf die linke Brust tätowieren, er ist ein Fremder im Dorf und in sich selbst. Er ist bereit und weiß nicht, wofür.
Bald wirst du die schönen Muster tragen, aber noch sind sie Stückwerk, unverbunden, dein Schmuck noch nicht vollendet. Schlag weiter, Meister, schlag zu.
Dann also, 2001, „bin ich auf das Samoa“, spricht Willi im Dialekt. Er will segeln in der Südsee, es ist zu früh, die Winde sind schlecht, er wartet. Von den Männern hier sind viele verziert, fällt ihm auf, die Schenkel sehen aus wie gemusterte Shorts, von Hüfte bis Knie ornamentiert, sie nennen es tatau. Sein Herbergsvater hat einen Bruder, der trägt das tatau, und der fragt: „Gefällt dir das?“ Willi nickt, sie hocken in einer Hütte am Strand, Bier in der Hand und Joints zwischen den Lippen, und Willi hört sich sagen: „Very much! Very, very much!“ Der andere fragt: „Willst du das auch?“
„,Willst du das auch?‘, hat der mich gefragt!“ Willi zieht an seiner Parisienne, in der Arvenstube vom Restaurant „Pöstli“ in Tannenboden. Er sagt: „Wieso hat der mich das gefragt? Sie bieten es eigentlich niemandem an. Es ist nicht für Fremde gedacht. Und ich frage mich: Wieso wusste der, dass ich das will?“
Wollen kann jeder. Die Leute im Dorf, in Saleapaga, wo Willis Wunsch schnell die Runde macht, raten ihm ab. Sie reden von Dingen, die Willi nicht versteht. Dass er zum Kind werde, wenn er es tue, dass sein alter Körper verfaule, dass er das Gehen neu lernen müsse, dass er vielleicht nicht stark genug sei. Von Geheimnis reden sie und von zweiter Geburt und von großem Schmerz. Willi hört zu und begreift nicht. So schlimm kann das alles nicht sein, denkt er sich. Das tatau gefällt ihm, er sieht es als Zierde, als Schmuck, der zu ihm passt. Ist ja auch nicht sein erstes Tattoo, der Indianer auf der Schulter, der Skorpion auf der Brust.
Ein Mann aus dem Dorf geht nach Manono, einer kleinen Insel vor Upolu, wo der Meister wohnt, um ihn zu fragen, ob er bereit sei, einen palagi, einen Weißen, zu zeichnen. Es gibt kaum ein halbes Dutzend tatau-Meister auf Samoa, sie geben ihr Wissen an ihre Söhne weiter, es gibt keine Lehrbücher, keine Motivsammlungen, die Lehrzeit dauert 20 Jahre. Am Abend kommt der Bote zurück und sagt, der Meister sei einverstanden. Doch er wünsche, dass Willi es noch einmal überdenke, drei Tage habe er Zeit. Danach soll es ein Ja sein oder ein Nein, und beides sei unwiderruflich.
Willi will.
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Guido Mingels, 35, Kisch-Preisträger 2003, arbeitet für Das Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers. Ein Tattoo hat er keines, doch mit 13 Jahren ließ er sich immerhin zwei Ohrlöcher stechen.
Der Fotograf Daniel Ammann, Jahrgang 1972, ließ sich dagegen spontan vom samoanischen Meister ein Armband tätowieren – mit deutscher Pelikan-Tinte.
Vita | Guido Mingels, 35, Kisch-Preisträger 2003, arbeitet für Das Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers. Ein Tattoo hat er keines, doch mit 13 Jahren ließ er sich immerhin zwei Ohrlöcher stechen.
Der Fotograf Daniel Ammann, Jahrgang 1972, ließ sich dagegen spontan vom samoanischen Meister ein Armband tätowieren – mit deutscher Pelikan-Tinte. |
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Person | Von Guido Mingels und Daniel Ammann |
Vita | Guido Mingels, 35, Kisch-Preisträger 2003, arbeitet für Das Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers. Ein Tattoo hat er keines, doch mit 13 Jahren ließ er sich immerhin zwei Ohrlöcher stechen.
Der Fotograf Daniel Ammann, Jahrgang 1972, ließ sich dagegen spontan vom samoanischen Meister ein Armband tätowieren – mit deutscher Pelikan-Tinte. |
Person | Von Guido Mingels und Daniel Ammann |