„Wie stellst du dir deine Zukunft vor?“

Ausgerechnet eine Seekadettenschule wird zu einem rettenden Hort für belgische Jungen aus schwierigen sozialen Verhältnissen

Die Königliche Stiftung IBIS wurde 1906 von Belgiens König Albert I. gegründet, ursprünglich, um Waisenkinder aufzunehmen und zu unterrichten. Heutzutage sind etwa 100 Jungen im Alter von sechs bis 16 Jahren in der Stiftung in Bredene untergebracht, von denen die meisten aus schwierigen Familienverhältnissen stammen und daher viel Unterstützung und Begleitung benötigen.

Der sekundäre Unterricht bietet ihnen eine seemännische Ausbildung, mit einer wöchentlichen Tagesfahrt auf See mit dem Ausbildungsschiff „De Broodwinner“. Wer die Schule abschließt, findet meist Arbeit im Bagger- oder im Lotsenwesen, manchmal auch in der Fischerei oder im gewöhnlichen Berufsleben.

Ibis ist die Gestalt des ägyptischen Gottes der Weisheit und Ausbildung, Thot, aber auch der Name des heiligen Vogels, der bei den alten Ägyptern vor den Überschwemmungen des Nils warnte. Er ist ein Vogel, der sein Nest an den Ufern des Nils baut – eine Metapher für das junge Leben, das sich festklammern kann, um nicht von zu heftigen Strömungen unserer Gesellschaft mitgerissen zu werden.

Mittlerweile sind mehr als 2900 Kinder mit ihren Namen, Passfotos und persönlichen Angaben in einem der vielen Stammbücher verzeichnet. Die Tradition der Stammnummer wurde bis auf den heutigen Tag beibehalten. Bei der Einschreibung bekommen die Jungen eine Nummer zugewiesen, die sie für den Rest des Lebens nie mehr aus dem Gedächtnis verlieren.

Die Ibis-Schüler verfügen über verschiedene Uniformen, darunter eine „First Class“-Uniform für Sonntage und eine prächtige Galauniform für festliche Anlässe. Auf den ersten Blick wirken Uniformpflicht, Stammnummer und Disziplin nicht zeitgemäß, doch sie tragen dazu bei, diesen Jugendlichen einen Halt im Chaos der häufig prekären familiären Verhältnisse zu geben.

Kurz geschoren, wie einst, werden die Haare der Kinder in der Ibis schon lange nicht mehr, und die Hängematten wurden schon vor langer Zeit durch Stockbetten ersetzt.

„Die Ibis war ein Gefängnis“, hörte ich einmal einen alten Fischer sagen, der dort seine Jugend verbracht hatte. Die Zeiten haben sich zum Glück geändert, doch es herrschen immer noch ein strukturierter Alltag und Regelmäßigkeit, deutliche Abmachungen und feste Disziplin, getragen von einer fundierten pädagogischen Auffassung.

Ja, die Stiftung ist kein Paradies, in dem die „Engel des Meeres“ aufs Geratewohl ein wenig herumflattern können. Sie ist vielmehr ein Ort, wo sie ihrem jungen Leben eine Struktur geben können. Diese Engel haben keine Flügel, sondern eher Schwimmflossen, mit denen sie demnächst aus dem Nest springen können, um in die weite Welt einzutauchen. Jedes Kind hat hier das Recht auf einen sichtbaren Horizont, auch wenn es auf dem Meer einmal stürmt.

Der Belgier Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, lebt als freier Fotograf für Panos Pictures im westflandrischen Veurne. Seinen Text übersetzte Andreas Gressmann aus dem Flämischen.

Tziano: „Ich möchte Polizist werden. Ich will auch viele Haustiere.

Ich will in einem größeren Haus wohnen.“ Stammnummer 2283


„Ich würde es cool finden, wenn es wieder Dinosaurier geben würde. Ich würde auch gern einen kleinen Bruder haben. Ich will Erfinder werden.“ Stammnummer 2202

Sammy: „Anwalt werden oder zur Marine gehen. Ich würde gern in der Marine sein, weil mein Papa auch viel auf See gewesen ist. Ich werde bis zur vierten Klasse Mittelstufe in der Ibis bleiben. Hier ist es sehr schön.“ Stammnummer 2216

Cody: „In der Zukunft sehe ich mich mit Feuer und Wasser arbeiten. Ich würde gern Feuerwehrmann werden.“ Stammnummer 2224

Noah: „Ich möchte, dass es keinen Krieg mehr gibt. Später möchte ich baggern, wie mein Opa, denn ich würde gern dasselbe tun wie er. Er war Erster Maschinist auf einem Baggerschiff.“ Stammnummer 2289

 

mare No. 126

No. 126Februar / März 2018

Von Stephan Vanfleteren

Der Belgier Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, lebt als freier Fotograf für Panos Pictures im westflandrischen Veurne. Seinen Text übersetzte Andreas Gressmann aus dem Flämischen.

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Vita Der Belgier Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, lebt als freier Fotograf für Panos Pictures im westflandrischen Veurne. Seinen Text übersetzte Andreas Gressmann aus dem Flämischen.
Person Von Stephan Vanfleteren
Vita Der Belgier Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, lebt als freier Fotograf für Panos Pictures im westflandrischen Veurne. Seinen Text übersetzte Andreas Gressmann aus dem Flämischen.
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