Wie die Ratten Venedig retten

Was tun gegen einen Tourismus, der zu Terrorismus ausartet? Küchenchef Alfredo hat eine Idee...

Die Eisgraue hatte als Jungratte davon profitiert, dass Alfredo, Ex-Schiffskoch und Küchenchef im „Tipo“, durchs Leben humpeln musste. Seine rechtsseitige Ganzbein-Prothese war ein Andenken an eine berstende Ankerwinde auf der MS „Vittorio Emanuele II“, Mai 1972, Darwin/Australien. Wegen dieser Behinderung machte sich Alfredo, Koch in einem der letzten Einheimischen-Restaurants von Venedig, nicht die Mühe, Fischinnereien, Fleischabfälle, fauliges Gemüse und verklebte Pasta festverdeckelt im Keller zwischenzulagern, wie es die Hygienevorschriften verlangten.

In seiner fettverklebten Küche, kaum größer als die Pantries seiner frühen Jahre, stand eine nicht sehr gut schließende Mülltonne. Meist war diese Tonne nicht ganz so voll, wie sie hätte sein können. Die Eisgraue hatte nämlich als einzige Ratte weit und breit gelernt, den Deckel zu heben, indem sie ihre Schnauze exakt an der Stelle einspreizte, wo die Abdeckung nicht glatt auflag. Der Lohn des Kraftaktes war stets eine blutige Nase – und eine Orgie in Fischgekröse, Kaninchenfettgewebe, fauligen Kartoffeln, Lammknochen und Pasta satt.

Doch allein ihre Kraft und die Fähigkeit, Schmerz zu ertragen, wenn ihr beim Hebe-Akt der Deckelrand hart über die Stirnplatte schrubbte, hätten nicht ausgereicht. Die Eisgraue hatte den perfekten Rattenmix aus Kühnheit und Vorsicht: Sie wählte stets den richtigen Moment, um die Fresstonne ohne Geraschel und Gekratze zu verlassen. Und zwar dann, wenn Alfredo – bei geöffnetem Abfallkübel – der Küche kurz den Rücken kehrte. Etwa für ein Schwätzchen mit den Stammgästen des „Tipo“, vorzugsweise über die ganz Venedig unterspülende Flut des Stundentourismus.

Irgendwann war es der Eisgrauen misslungen, die Nummer mit dem großen Rattensprung richtig zu timen. Nur um Barthaaresbreite entging sie Alfredos geworfenem Hackebeil. Doch Abenteuer am Rande des Todes machen kluge Ratten noch klüger. Die Eisgraue war unter die Brücken abgewandert. Ihre Physis, dank etlicher Monate Spitzenkost bei Alfredo einfach rattenscharf, hatte es ihr erlaubt, sich in den großen Schwimmratten-Clan unter der Ponte Dei Tre Archi einzuschieben. Im Grunde ein heikles Unterfangen, ohne den passenden Familiengeruch. Doch die Platzhalterinnen hatten sich durch die Ultraschall-Schreie der Eisgrauen beeindrucken lassen. In ihnen vibrierte eine einschüchternde Kraft, und die wuchtige Silhouette der Neuen tat ein Übriges.

Alfredo hatte nichts Prinzipielles gegen Ratten. Nur eben in der Küche sollten sie nicht sein. Er fand sogar, dass die Schnellfüßigen mehr Rechte an Venedig hätten als eine bestimmte Mischpoke von Touristen. Den Stammgästen im „Tipo“ – einem von vielleicht zwanzig noch wirklich geheimen, touristenfreien Geheimtipps in der Lagunenstadt – hielt Alfredo seit einiger Zeit wilde Brandreden, bei denen er sich ekstatisch aufs Hartlederbein zu schlagen pflegte: „Die edlen Söhne und Töchter unserer ruhmreichen Stadt haben es bisher ausgehalten in dieser Weltmetropole des Blitztourismus. Aber auch sie sind längst auf dem Sprung und zur Flucht entschlossen – zur Kapitulation vor den Nachfahren der Goten, Vandalen und Langobarden, die in Rekordzeit Dogenpalast und Seufzerbrücke abhaken, gewissermaßen umblätterten wie Schmuddelfotos in einer Sexpostille, und die den betenden Frauen in Santa Maria Gloriosa auf die Rosenkranzperlen starren.“ Alfredos Sätze gerieten länger als seine Spaghetti und schärfer als die Arrabbiata, die ihm eine bescheidene Berühmtheit eingetragen hatten. „Und papierene Aktionen“, damit meinte Alfredo die viel diskutierte Anti-Touristen-Plakat-Aktion von Bürgermeister Cacciari, „sind alleine nicht genug, wir brauchen starke Verbündete.“

Und es muss Blut fließen. Letzteres sagte Alfredo, eigentlich ein sanfter, friedlicher Zeitgenosse, natürlich nicht laut. Nicht einmal die Gleichgesinnten im „Tipo“ zog er ins Vertrauen. Zur Tat brauchte es nur noch einen letzten Anstoß. Und der kam im Wortsinne. An einem Oktober-Samstag, als er auf der Rialtobrücke von zwei sich in Gegenströmung befindlichen belgischen Vogelzuchtvereinen fast zerrieben worden wäre, beschloss er, mit dem Blutvergießen anzufangen.


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Claus-Peter Lieckfeld und Klaus Ensikat

Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, lebt als freier Autor in Windach, Oberbayern. Sein Buch Rinaldo ist ein Esel. Zehn ungewöhnliche Tierporträts erschien im Tecklenborg-Verlag.

Klaus Ensikat, Jahrgang 1937, lebt seit 1965 als freier Künstler in Berlin. Viele Kinderbücher, die er illustrierte, sind preisgekrönt. In mare No. 17 erschienen seine Zeichnungen über Fisch und Wein.

Lieckfeld und Ensikat arbeiten hier exklusiv für mare.

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Vita Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, lebt als freier Autor in Windach, Oberbayern. Sein Buch Rinaldo ist ein Esel. Zehn ungewöhnliche Tierporträts erschien im Tecklenborg-Verlag.

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Vita Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, lebt als freier Autor in Windach, Oberbayern. Sein Buch Rinaldo ist ein Esel. Zehn ungewöhnliche Tierporträts erschien im Tecklenborg-Verlag.

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