„Wer sich nicht beugt, geht zugrunde“

Vor sieben Jahren zog es den Künstler und Weltenwanderer Günther Uecker in eine Strandhütte seiner mecklenburgischen Heimat zurück. Nun droht dem Refugium der Abriss. Ein Gespräch über die Kunst, das Leben und das Wesenhafte des Meeres

mare: Herr Uecker, sind Sie ein Streithammel?

Günther Uecker: Wie kommen Sie denn darauf?

Gerade waren Sie wieder auf Wustrow, einer kleinen, verwilderten Halbinsel in der Ostsee nahe Rerik. Dort, am Ort Ihrer Kindheit, hatten Sie 2003 eine Hütte errichten lassen, um die es seit Jahren erbitterte juristische Auseinandersetzungen gibt. Was zieht Sie, trotz dieser widrigen Umstände, dorthin zurück?

Mich hat es immer dorthin gezogen. Das Wasser ist für mich eine Reflexionsebene, die mich daran erinnert, woher ich komme. Erstmals bin ich 1995 zurückgekehrt, unmittelbar nach dem Abzug der 10. Sowjetarmee.

Die Sowjets hatten das Gebiet 1949 zur militärischen Sperrzone erklärt und alle Bewohner, also auch Sie und Ihre Eltern und Geschwister, von dort vertrieben. Wie stark war Ihr Heimweh?

Zurückgekehrt bin ich nicht so sehr, weil Heimweh mich plagte, sondern wegen eines Gefühls der Entbundenheit, nach dem Verlassen der Insel, das mich damals so tief ergriffen hat.

Entbunden wovon?

Von dieser Sehnsucht, die mich schon früh überfallen hat: über das Meer zu schauen, um zu imaginieren, was dahinter sein mag. Das Dänische und Schwedische, das man ahnte und manchmal in Luftspiegelungen wahrnahm. Das Meer, wenn man es täglich sieht, verändert sich sehr stark, durch seine warmen Luftströmungen, die das hinter dem Horizont Liegende in den Himmel spiegeln, ganz realistisch. Das waren wichtige Eindrücke. Einmal habe ich ein Floß gebaut und ein Fass daraufgestellt, es mit Holzwolle und Teer gefüllt und angezündet. Bei Landwind trieb es weit hinaus auf die Ostsee. So habe ich bis in die Nacht bei offenem Fenster ein Zeit- und Raumgefühl erlebt, bis ich das Feuer am Horizont verschwinden sah.

Warum wollten Sie das unbedingt ausprobieren?

Immer wandelte sich in der Fantasie die Antwort auf die ewig gleiche Frage: Was ist dahinter? Das fragte ich mich auch beim Anblick der Zeichnungen des schwedischen Malers Ernst Josephson. Es waren die ersten Bilder, die ich als Kind bewusst zu Gesicht bekam. Es waren Reproduktionen. Ich war tief berührt von der „Königin von Golkonda“. Das Gesicht schaute mich an und traf meine Seele in einer ungeahnten Vertrautheit. Die Augen, die Striche und Punkte verfolgten mich und entsprachen meiner manischen Innerlichkeit. All die Mittel für bildnerischen Ausdruck fand ich hier, wie später auch bei der näheren Betrachtung von Originalen, den Selbstporträts von Rembrandt. Die pastos aufgetragene Farbe, die Spuren der Pinselhaare sind eine lebendige Ausdrucksweise tiefer menschlicher Empfindung des Künstlers. Eine strukturelle Mitteilung, die ich zu lesen bemüht war. So, als ob man die alten Schriften aufschlägt, zu lesen beginnt und ergriffen ist.

So ergriffen, wie Sie bei Ihrer Rückkehr nach Wustrow waren?

Das Zurückkommen nach Wustrow war, als ob die Mutter eine Abtreibung durchgeführt hätte und man dann aber doch geboren wird. Ich habe mich ermutigt gesehen, mich in meine sentimentale Empfindung zu stürzen, so wie man erbricht – und im Erbrochenen ausrutscht.

Das klingt, als würden Sie sich mit aller Macht gegen Ihre Gefühle stemmen …

Nicht gegen meine Gefühle. Aber dieser Kitsch der Sentimentalität hat durchaus etwas Ausgleitendes, etwas von Selbstvernichtung, Künstlervernichtung. Ich habe es dann doch gemacht, weil das Empfinden so stark war. Zurückzukehren an diesen Ort der Sehnsucht – was ja nichts anderes ist als die Bereitschaft, das einen Befremdende erreichen zu wollen.

Was empfinden Sie im Angesicht des Meeres?

Warum schaue ich da hin? Weil ich mich entgrenzt fühle in meiner Verfassung, meiner Konvention, in die man sich begibt, damit man nicht in psychische Turbulenzen gerät. Die aber der Künstler wiederum aushält. Ich bin mit sehr vielen Dingen verbunden, die mich dann überfallen. Diese manische Erregtheit, die entsteht, das ist unerklärbar. Ich erlebe Schauder, Ängste, Erschütterungen, es wird in mir ganz Ursprüngliches geweckt durch das Alleinsein in dieser elementaren Umgebung. Diese Dialektik der Begegnung: die Herausforderung, aus dem Zwiegespräch mit dem Meer eine Gegenwelt in sich selbst herzustellen, um sich behaupten zu können und nicht kopflos taumelnd zu ertrinken. Ich befinde mich mit den Naturelementen in einem intensiven Dialog.

Was haben Sie aus diesem Dialog mit dem Meer gelernt?

Mich anzupassen, niemals gegen die Naturkräfte anzukämpfen, keinen eigenen Willen zu haben, sonst zerbricht man – wie der starre Mast im Sturm. Was sich nicht beugt, geht zugrunde.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 80. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Claudine Engeser

Seit die Kölner Journalistin Claudine Engeser, Jahrgang 1965, Anfang der achtziger Jahre in ihrer Heimatstadt Mönchengladbach erstmals eine Ausstellung Günther Ueckers sah, lassen sie seine Bilder nicht los. Nachdem sie dem 80-jährigen Maler gegenübersaß, ist sie auch von seiner unglaublichen Wortgewandtheit fasziniert.

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Vita Seit die Kölner Journalistin Claudine Engeser, Jahrgang 1965, Anfang der achtziger Jahre in ihrer Heimatstadt Mönchengladbach erstmals eine Ausstellung Günther Ueckers sah, lassen sie seine Bilder nicht los. Nachdem sie dem 80-jährigen Maler gegenübersaß, ist sie auch von seiner unglaublichen Wortgewandtheit fasziniert.
Person Von Claudine Engeser
Vita Seit die Kölner Journalistin Claudine Engeser, Jahrgang 1965, Anfang der achtziger Jahre in ihrer Heimatstadt Mönchengladbach erstmals eine Ausstellung Günther Ueckers sah, lassen sie seine Bilder nicht los. Nachdem sie dem 80-jährigen Maler gegenübersaß, ist sie auch von seiner unglaublichen Wortgewandtheit fasziniert.
Person Von Claudine Engeser