Wenn der Vorhang fällt

Das „National Museum of Natural History“ in Washington zeigt 600 Millionen Jahre Leben und Aussterben im Meer. Ein Drama in drei Akten

Das Schauspiel über die Evolution des Lebens im Meer vom Erdaltertum bis zur Gegenwart wird im „National Museum of Natural History“ in Washington gegeben. Das umfangreiche Naturkundemuseum gehört – zusammen mit verschiedenen Kunstgalerien, einem Museum für amerikanische Geschichte und dem Raumfahrtmuseum – zum berühmten Komplex der Smithsonian-Sammlungen.

Drei Ausstellungen sind allein den Meeren gewidmet: Ein gut erhaltenes Exemplar des Riesentintenfischs Architeuthis erwartet den Besucher in der Ausstellung „In Search of the Giant Squid“. Diese rätselhaften Riesen – sie werden bis zu 18 Meter lang – hat bisher noch niemand lebend in den Ozeanen beobachten können. „Exploring Marine Ecosystems“ zeigt lebende Meeresökosysteme, ist mehr Aquarium als Museum.

„Life in the Ancient Seas“ ist eine geschickt inszenierte Fossilienausstellung, die den Besucher durch 600 Millionen Jahre Erdgeschichte führt. Die Erklärungen, die die Ausstellungsstücke begleiten, lesen sich wie Regieanweisungen für ein Drama, in dem die Fossilien die Rolle von Schauspielern übernehmen, und Wandgemälde, Rekonstruktionen von Meeresbiotopen und Modelle von Pflanzen und Tieren als Kulissen dienen. Eine einfallsreiche Dramaturgie, mit der die Fossilien auf wunderbare Weise zum Leben erweckt werden.

Der erste Akt des Dramas beginnt vor rund 570 Millionen Jahren im Paläozoikum. Leichte Brandung rauscht im Hintergrund, Sonnenstrahlen werfen tanzende Schatten auf sandigen Meeresboden. Damals begann das Leben hart zu werden – die Bewohner der Urmeere bildeten innere Skelette aus oder umgaben sich mit Panzern. Die harten Körperteile sind bis heute erhalten geblieben, bizarre Strukturen, die Aufschluss über die kuriosen Gestalten der frühen Lebewesen geben: in Schalengürtel verpackte Brachiopoden, auf Stelzen balancierende Krinoide, Ammoniten so groß wie ein Wagenrad und – die Stars dieser Ära – Trilobiten in allen Größen und Formen.

Die merkwürdigen Urtiere bewohnen ein Riff, das drei Meter hoch vom Meeresgrund aufragt. Wie an den Korallenriffen von heute wimmelte es an dieser Formation, von Schwämmen, Bryozoen und Algen aufgebaut, von Leben. Weiter draußen im offenen Meer hausen die – kieferlosen – Vorfahren der Fische. Der Ort des Geschehens verblüfft zunächst: Paläontologen haben das alte Riff und seine fossilen Bewohner auf einem Bergrücken im Westen von Texas ausgegraben. Im Erdaltertum bedeckte eine gewaltige Lagune weite Gebiete des heutigen Amerikas.

Der – imaginäre – Vorhang senkt sich zum ersten Mal vor 235 Millionen Jahren. Die Mehrheit der Spieler – über neunzig Prozent der in den Meeren lebenden Arten – starb damals aus.

Ein Zeitrafferfilm – 600 Millionen Jahre in 30 Sekunden – verdeutlicht, wie ruhelos es auf dem Erdball zugeht. Landmassen werden hin- und hergeschoben, Küsten versinken im Meer und steigen an anderer Stelle wieder auf.

Am Anfang des zweiten Akts, den der Besucher im nächsten Raum erlebt, sind die Erdteile zu einer einzigen Masse verschmolzen, dem Urkontinent Pangaea. Im immensen Ozean des Mesozoikums erholt sich das Leben. Die Szene verlagert sich vom Meeresboden ins freie Wasser. Ammoniten trudeln durch die Meerestiefen, Fische entwickeln eine spektakuläre Vielfalt, und als Gaststars treten Meeresreptilien wie der Ichthyosaurier auf, die vom Land zurück ins Wasser wanderten.

Wieder fällt der Vorhang vor 65 Millionen Jahren. Das Massenaussterben, das den Dinosauriern zu Land den Garaus machte, löscht die Hälfte aller ozeanischen Arten aus, darunter die Ammoniten und die mächtigen Meeresreptilien.

Im dritten Akt, der Neuzeit, entfaltet sich das Leben der Ozeane, wie wir es heute kennen. Insbesondere die Fische experimentieren mit bislang unbekannten Formen, um neu entstandene Lebensräume zu besiedeln. Dazu kommen Neulinge wie die Wale. Das Skelett des Urwals Basilosaurus verrät die Herkunft der Meeressäuger: Es ist mit kompletten Vorder- und rudimentären Hinterbeinen ausgestattet. Damit schließt die Fossilienausstellung.

Der Besucher hat jedoch die Gelegenheit, das Drama selbst weiterzudichten. Ein kurzer Weg durch das Foyer des Museums bringt ihn zur Ausstellung „Exploring Marine Ecosystems“. Zwei Aquarien bestimmen die Szene, links lacht ein tropisches Korallenriff in schillernden Farben, rechts toben die Wellen an einer nördlichen Felsenküste. Korallen und Seeanemonen, Riffkrabben und prächtige Fische auf einer Seite, Tang und Seeigel, Einsiedlerkrebse und Hummer auf der anderen. Extrem verschiedene Lebenskreise, jeder das Ergebnis eines langen Dialogs zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt.

Ist dies der Schluss des Dramas? Im Gegenteil, Zeichen deuten daraufhin, daß wir es mit einem Spiel ohne Ende zu tun haben. Eine Karte zeigt Korallenriffe in allen Weltmeeren, die in Gefahr schweben. Ein Diagramm veranschaulicht den drastischen Rückgang der Walpopulationen.

In einem verdunkelten Nebenraum hängt das lebensgroße Modell eines Blauwals über den Köpfen der Besucher. Walstimmen hallen von den Wänden: Abfolgen von hohen Schreien wechseln mit gelegentlichen tiefen Rufen, die an ein Nebelhorn erinnern. Die Basstöne – sie dienen vermutlich der Kommunikation über große Entfernungen – sind heute nur noch im Museum zu hören. Blauwale in den Meeren singen die tiefen Töne nicht mehr. Warum, ist ungewiss. Vielleicht lohnt sich das Rufen über große Weiten nicht, weil nur noch wenige dieser Nomaden die Ozeane durchziehen, oder sie fühlen sich durch das ständige Lärmen der Frachter gestört. Ein Rätsel, das ungelöst bleibt – derweil der Vorhang ein weiteres Mal fällt?


National Museum of Natural History
Smithsonian Institution,
Constitution Avenue at 10th Street NW, Washington, DC. 20560.
Geöffnet täglich von 10 bis 17.30 Uhr, am 25. Dezember geschlossen

mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Sophia Wald und Johannes Kroemer

Sophia Wald, Jahrgang 1954, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin in Washington, D.C.

Der deutsche Fotograf Johannes Kroemer lebt und arbeitet seit vielen Jahren in New York.

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Vita Sophia Wald, Jahrgang 1954, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin in Washington, D.C.

Der deutsche Fotograf Johannes Kroemer lebt und arbeitet seit vielen Jahren in New York.
Person Von Sophia Wald und Johannes Kroemer
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