Wenn das Meer zu Besuch kommt

Schieben sich im Juni die ersten Regenwolken des Monsuns über Indien und Bengalen, beginnt eine Periode von besonderem Zauber. Es ist die Zeit der Erfrischung, Verjüngung und Lebenslust. Aber auch die Zeit der Fluten, die viele Menschen in Angst versetzen

Jedes Jahr wendet ein grosser Teil der indischen Bevölkerung seine Aufmerksamkeit einem interessanten kleinen Gebäude in der südlichen Stadt Trivandrum zu. Obschon es mit seinen eleganten Umrissen und seinem direkten Ausblick auf das Arabische Meer nach einem kleinen Palast aussieht, ist es in Wahrheit das Wetteramt und damit der Ort, von wo aus das stürmische Hereinbrechen des indischen Monsuns offiziell verkündet wird. Der Monsun, eines der spektakulärsten Naturschauspiele der Erde, wird von den Mitarbeitern des Wetteramts mit einer Mischung aus Aufregung und Erleichterung verfolgt. Denn bereits seit einiger Zeit haben sie besorgte Anfragen von Medienvertretern, führenden Geschäftsleuten, Politikern, ja dem Ministerpräsidenten persönlich abwimmeln müssen. (Einmal hörte ich, wie ihm Julius Joseph, Trivandrums Monsunoffizier, der wie ein Filmstar der dreißiger Jahre aussah, sagte, der Monsun befinde sich 64 Kilometer nördlich von Kandy, Sri Lanka, und habe Verspätung.)

Erreichte er üblicherweise das Land in Trivandrum am 1. Juni, kann er sich heute um Tage, ja Wochen verzögern. Und beim Warten werden die Menschen zunehmend gereizt. Der Redakteur der Lokalzeitung sagte: „Die Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch ist für alle sehr schwierig. Die Ernte ist vorbei, es gibt kaum Waren, das Einkommen sinkt, selbst unsere Auflage nimmt ab. Es gibt kaum Anzeigen, und weniger Leute können es sich leisten, eine Zeitung zu kaufen. Meine Mitarbeiter und ich warten genauso sehnsüchtig auf den Regen wie ein Bauer.“ Der Monsun, ergänzte er, wirke sich in Indien auf alle Aspekte des Lebens aus, auch auf die wirtschaftlichen und politischen. Ein ehemaliger Finanzminister gestand einmal: „Mit jedem einzelnen meiner Budgets habe ich darauf spekuliert, dass es regnen würde.“

In Trivandrum herrschten 42 Grad Celsius, doch vom Gefühl her war es viel heißer. Der Monsun beherrschte sämtliche Gespräche, und manche befürchteten, er könnte überhaupt ausbleiben. Ich las, in Jamnagar hätten Sirenen geheult, man habe zu arbeiten aufgehört und den Verkehr angehalten, damit alle 300 000 Einwohner der Stadt fünf Minuten lang beten konnten. Ein Sprecher sagte: „Wir hoffen, der Regengott erhört uns.“

Hier in Trivandrum stand Thomas Jacob, der Erfinder eines Geräts, das „kodierte Impulse“ in die Atmosphäre sandte, bereit, um zu helfen. (Einmal hatte er dermaßen heftigen Niederschlag hervorgerufen, dass die Stromversorgung ausfiel.) Außerdem hatte ich das Glück, Herrn Seshan kennenzulernen, der vor seiner Ernennung zum Wirtschaftsprofessor an der Universität Madras einmal aus Versehen einen Wolkenbruch gemacht hatte. Er war als junger Mann mit Freunden über Land spaziert und hatte einen klassischen Regenraga angestimmt. „Er hieß ,Nektar regnen‘“, erklärte er mir. „Ich sang ihn zum Scherz, doch sogleich zogen Wolken auf. Ich war natürlich ziemlich baff, und wenige Augenblicke später ist es passiert.“ „Der Himmel öffnete seine Schleusen?“, sagte ich. „Ich löste ein ausgewachsenes Gewitter aus!“ Dann erzählte er mir von einem Musiker aus Madras, der das mit seiner Geige konnte; doch sowie er den entscheidenden Akkord spielte, der den Regen auslöste, ging sein Instrument jeweils kaputt und brach mitten entzwei.

Von der Hitze erschöpft, bewegten sich die Bewohner von Trivandrum nur, wenn sie unbedingt mussten. Das Meer war flach, die Luft stand still, Rauch von Schiffen am Horizont brauchte eine Stunde, bis er sich aufgelöst hatte. Der 1. Juni verstrich ereignislos. Doch am folgenden Morgen wurde ich von Wind und dem wilden Peitschen der Kokospalmen geweckt.

„Monsun kommt“, sagte der Kellner beim Frühstück. Ich blickte ihn an. „Wann?“ „Ich glaube, heute Nachmittag.“ Ich eilte zum Wetteramt, wo mir Julius Joseph freudig sagte, der mit 40 Knoten aus Südwesten blasende Wind sei das klassische Vorspiel. „Wir erwarten ihn um drei Uhr. Und der beste Ort, um zu sehen, wie er das Land erreicht, ist Kovalam Beach.“

Hinter der Küstenstraße hatte sich eine Zuschauerreihe gebildet. Sie begrüßten mich mit einem Lächeln. Sie waren überraschend formell gekleidet. Viele Männer trugen Krawatten und die Frauen feine Saris, die im Wind knatterten. Ihre Aufregung war die eines Komitees, das sich anschickt, einen gefeierten spirituellen Führer zu begrüßen. Der Himmel war schwarz, Donner krachte, die See kochte, unsere Gesichter brannten von der Gischt. Begeistert ließen wir uns von dem Unwetter beuteln. Die Dame aus Bangalore neben mir rief: „Gestern hatten wir im Hotelgarten Libellen. Die sind ein Zeichen. Da wussten wir, der Monsun kommt!“

Aus dem Englischen von Thomas Bodmer


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mare No. 74

No. 74Juni / Juli 2009

Von Alexander Frater, Ute Eberle und Bruce Connew

Alexander Frater, Jahrgang 1942, Schriftsteller in London, ist in Vanuatu geboren, einem Archipel im Westpazifik, und seit seiner Kindheit mit tropischem Regen vertraut. Sein Vater, ein schottischer Missionsarzt, war fasziniert vom indischen Monsun und maß regelmäßig die Niederschläge in seinem Garten. Viele Jahre später – Frater war inzwischen Reisekorrespondent des Londoner Observer – hatte er sich auf einer Fahrt durch die Mongolei den Rücken verknackst und zog vergebens von einem Spezialisten zum anderen. Im Warteraum eines Neurologen traf er auf einen Inder aus Mumbai, der ihm von der wundersamen Heilkraft des Monsuns erzählte. Frater reiste dem Monsun drei Monate hinterher, von der Südspitze Indiens bis zu den südlichen Ausläufern des Himalaja im Norden. Er schrieb darüber den Bestseller Regen-Raga.

Ute Eberle, Jahrgang 1972, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin im niederländischen Leiden.

Bruce Connew, Jahrgang 1949, lebt als Fotograf im neuseeländischen Wellington.

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Vita Alexander Frater, Jahrgang 1942, Schriftsteller in London, ist in Vanuatu geboren, einem Archipel im Westpazifik, und seit seiner Kindheit mit tropischem Regen vertraut. Sein Vater, ein schottischer Missionsarzt, war fasziniert vom indischen Monsun und maß regelmäßig die Niederschläge in seinem Garten. Viele Jahre später – Frater war inzwischen Reisekorrespondent des Londoner Observer – hatte er sich auf einer Fahrt durch die Mongolei den Rücken verknackst und zog vergebens von einem Spezialisten zum anderen. Im Warteraum eines Neurologen traf er auf einen Inder aus Mumbai, der ihm von der wundersamen Heilkraft des Monsuns erzählte. Frater reiste dem Monsun drei Monate hinterher, von der Südspitze Indiens bis zu den südlichen Ausläufern des Himalaja im Norden. Er schrieb darüber den Bestseller Regen-Raga.

Ute Eberle, Jahrgang 1972, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin im niederländischen Leiden.

Bruce Connew, Jahrgang 1949, lebt als Fotograf im neuseeländischen Wellington.
Person Von Alexander Frater, Ute Eberle und Bruce Connew
Vita Alexander Frater, Jahrgang 1942, Schriftsteller in London, ist in Vanuatu geboren, einem Archipel im Westpazifik, und seit seiner Kindheit mit tropischem Regen vertraut. Sein Vater, ein schottischer Missionsarzt, war fasziniert vom indischen Monsun und maß regelmäßig die Niederschläge in seinem Garten. Viele Jahre später – Frater war inzwischen Reisekorrespondent des Londoner Observer – hatte er sich auf einer Fahrt durch die Mongolei den Rücken verknackst und zog vergebens von einem Spezialisten zum anderen. Im Warteraum eines Neurologen traf er auf einen Inder aus Mumbai, der ihm von der wundersamen Heilkraft des Monsuns erzählte. Frater reiste dem Monsun drei Monate hinterher, von der Südspitze Indiens bis zu den südlichen Ausläufern des Himalaja im Norden. Er schrieb darüber den Bestseller Regen-Raga.

Ute Eberle, Jahrgang 1972, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin im niederländischen Leiden.

Bruce Connew, Jahrgang 1949, lebt als Fotograf im neuseeländischen Wellington.
Person Von Alexander Frater, Ute Eberle und Bruce Connew