Weit über den Horizont hinaus

Das Genie des Leonardo da Vinci endete nicht am Ufer des Meeres. Zeit seines Lebens versuchte er, ihm die Geheimnisse zu entreißen

Ein Tauchgerät. Ein U-Boot. Ein Schiff mit Schaufelrad. Ein Paar Wasserski. Wenn Leonardo da Vinci in seinem Studierzimmer sitzt und zeichnet, denkt er oft an das Meer. Das Wasser ist sein Element, zumindest in seiner Fantasie. Er stellt sich vor, wie das wäre: in einem Taucheranzug mit Lederhaube und Glasscheibe vor den Augen unter Wasser zu schwimmen und dabei durch ein langes Rohr zu atmen, das bis an die Oberfläche reicht. Oder mit Brettern unter den Schuhen und Stöcken in der Hand leichtfüßig über die Wasseroberfläche zu marschieren. Oder den Meeresgrund aus einer Ein-Mann-Kabine zu erkunden. Oder beim Schifffahren nicht auf den Wind zum Segeln angewiesen zu sein, sondern Schaufelräder zu nutzen.

Niemand bringt diese Dinge so virtuos zu Papier wie Leonardo da Vinci. Als Universalkünstler fühlt er sich für Technik ebenso zuständig wie für Anatomie, für Hydraulik nicht weniger als für Geologie und Wetterforschung. Er will alles lernen, alles wissen und am Ende alles in seine eigentliche Kunst, die Malerei, integrieren.

Nur eines interessiert ihn kaum: wie seine Entwürfe sich ganz praktisch umsetzen lassen. Auch seine anderen großartigen Maschinen, die Hebevorrichtungen, den selbst drehenden Bratspieß, die Luftschraube führen er und seine Mitarbeiter wohl nie aus, nicht einmal Holzmodelle sind überliefert. Leonardo, der Visionär, begnügt sich offenkundig zumeist mit Feder, Zeichenstift und Papier. So ist nicht bekannt, ob ihm bewusst ist, dass all seine schönen Träume gar nicht Realität werden können. Ein Atemrohr, das fast so lang ist wie ein Mensch hoch, hilft keinem Taucher. In dieser Tiefe ist der Wasserdruck auf dem Brustkorb zu groß, um ohne Erstickungsgefahr schnorcheln zu können. Und die (lange bekannten) Schaufelräder an Schiffen sind gut und schön, einen Antrieb aber brauchen auch sie – und das kann vor der Erfindung des Motors doch wieder nur Muskelkraft sein. Wie genau die Kraftübertragung von den Pedalen bis zu den Schaufeln vonstattengehen soll, erklärt Leonardo in seinen Zeichnungen nicht, das Schiff ist nicht funktionstüchtig.

Auch seine Wasserski sind dem Untergang geweiht, wenn der Läufer nicht von einem ausreichend schnellen Boot gezogen wird, und das gibt es um 1500 noch nicht. Und das U-Boot? Hier immerhin notiert Leonardo einige Anweisungen neben sein Bild. Dem möglichen Kapitän der Kapsel sagt er: „Tu hinaus die Luft und lass wieder Luft anstelle des Vakuums hinein.“ Wer aber in so einer Kabine tatsächlich unter Wasser ginge, würde wohl irgendwann ersticken, zumal er die Luke wegen des Wasserdrucks von innen nicht mehr öffnen könnte.

Leonardo ist kein Küstenkind, sondern ein Landjunge, aufgewachsen in der hügeligen Landschaft des toskanischen Orts Vinci. Dort sah er den Vögeln nach, deren Flug er später nachahmen würde. Das Meer war weit weg, und ob er wenigstens später einmal in See stach, ist nicht bekannt. Doch je älter er wird, je intensiver er seine Naturstudien betreibt, desto stärker faszinieren den Forscher das Wasser und das Meer. Zu umfassend ist seine Neugier, zu stark sein Drang, zeichnend, malend und schreibend zu verstehen, als dass er sich gedanklich mit festem Boden unter den Füßen begnügen könnte.

Vielleicht begann seine Leidenschaft für die Kräfte des Wassers schon in der lärmenden, engen Metropole Florenz, in der Leonardo als Jugendlicher eine Ausbildung zum Künstler begann. Sein Vater, ein Notar, hatte den unehelichen Sohn (die Mutter war eine junge Frau aus kleinen Verhältnissen) in der Werkstatt von Andrea del Verrocchio untergebracht. Für eine höhere Laufbahn fehlte dem Jungen die Schulbildung; wegen seiner nicht ehelichen Herkunft hatte er nur die Mittelstufe besuchen dürfen. Verrocchio war ein begnadeter Goldschmied und Bildhauer, als Maler aber ein Anfänger. Und so bezog er bald seinen Lehrling in die Arbeit ein.

Der junge Tierfreund – angeblich kaufte er auf dem Markt Vögel, um sie freizulassen – durfte allem Anschein nach einen Hund und einen Fisch auf dem Gemälde „Tobias und der Engel“ malen. Der Hund tapst fröhlich neben dem Engel durch die Landschaft, der Fisch aber ist am Ende. Seine Innereien sollen helfen, die Blindheit von Tobias Vater zu heilen, deswegen trägt er das beinahe tote Tier an einem Band nach Hause. Der hochbegabte Maler weiß genau, wie ein verletzter Fisch aussieht, offenkundig hat er nicht nach Bildvorlagen gearbeitet, sondern sich auf dem Fischmarkt umgesehen. Blut strömt dem Tier unter den hell glänzenden Schuppen hervor, sein offenes Maul scheint zu japsen, die Augen schimmern verzweifelt. Es ist nur ein Fisch, nichts als ein Nutztier nach Ansicht der Zeitgenossen – der Künstler aber entwickelt Mitgefühl mit dem sterbenden Wesen.


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mare No. 135

No. 135August / September 2019

Von Kia Vahland

Kia Vahland ist Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung. Kürzlich ist ihre Künstlerbiografie Leonardo da Vinci und die Frauen im Insel Verlag erschienen.

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Vita Kia Vahland ist Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung. Kürzlich ist ihre Künstlerbiografie Leonardo da Vinci und die Frauen im Insel Verlag erschienen.
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Vita Kia Vahland ist Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung. Kürzlich ist ihre Künstlerbiografie Leonardo da Vinci und die Frauen im Insel Verlag erschienen.
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